Der Glaspavillon
verzog das Gesicht.
»Alan hat sich die ganze Zeit über in seinem Arbeitszimmer verschanzt, während ich auf Stead war. Und wenn er gerade nicht drin war, hat er die Tür abgeschlossen.«
»Ach je«, seufzte ich.
»Keine Sorge, Jane, gemeinsam wird uns schon was einfallen.«
Ich brummte zustimmend, während Birmingham mit seinen ausufernden Wohnblocks vorbeiflog. Noch eine Zigarette. Ich hatte keine Ahnung, was ich zu Alan sagen würde, ich hatte mich noch nicht mal darauf vorbereitet, ihn zu sehen. Eine Weile wühlte ich in meiner Handtasche herum, fand einen Kamm und fuhr mir damit durch die Haare, ehe ich die Pelzmütze wieder aufsetzte. Claud musterte mich aus dem Augenwinkel.
»Nervös?«
Mir fiel ein, daß Claud der einzige Martello war, mit dem ich hier einfach so sitzen konnte.
»Du hast dich sehr fair verhalten«, sagte ich.
Er blickte starr geradeaus.
»Hoffentlich«, entgegnete er nur.
Unter der dünnen Schneedecke wirkte Natalies Grab immer noch ordentlich und neu. In einer steinernen Vase steckten Frühlingsblumen – Schneeglöckchen, gelber Winterling. Ich überlegte, ob sich wohl jemand um das Grab kümmern würde. Daneben klaffte ein häßliches Loch in der Erde. Die letzten kalten Schneeflocken fielen hinein.
Eine kleine Gruppe dunkel gekleideter Trauergäste stand um das Grab und sah zu, wie Marthas vier Söhne mit dem Sarg nahten. Ihre Gesichter waren ernst und schön – so trugen trauernde Söhne die sterblichen Überreste ihrer geliebten Mutter zu Grabe. Vor mir nahm ein Mann seinen Hut ab, und plötzlich erkannte ich, daß es Jim Weston war, in einem unmöglichen langen Mantel. Das letzte Mal hatte ich ihn ebenfalls an einem Grab getroffen. Einer Art Grab jedenfalls. Ich stellte mich ganz an den Rand der Trauergemeinde, um eine zufällige Begegnung mit Alan nach Möglichkeit zu vermeiden. Später würde er mich sicher umarmen und mir zuflüstern, wie schwer ihn dieser Verlust traf. Doch das alles konnte warten. Plötzlich spürte ich, wie jemand meine Schulter berührte, und wandte mich um. Es war Helen Auster.
»Ich wollte mich nur blicken lassen«, erklärte sie mit einem kleinen Lächeln.
Ich umarmte sie kurz, während wieder die vertrauten Worte gesprochen wurden.
Alan hörte ich, ehe ich ihn sah. Als Marthas Sarg in die offene Grube hinabgelassen wurde, zerriß ein lauter Klageschrei die Luft. Alle reckten die Köpfe, und plötzlich sah ich durch eine Lücke im Gedränge, was los war. Alan beugte sich über den Sarg und brüllte laut. Der Wind blies ihm die grauen Haare aus dem Gesicht; trotz der Kälte trug er keinen Mantel, sein schwarzer Anzug war schmuddelig und nicht mal zugeknöpft. Tränen rannen über sein fleckiges Gesicht, und er hob seinen Stock und reckte ihn zum Himmel wie ein improvisierter König Lear.
»Martha!« schrie er. »Martha!«
Seine vier Söhne scharten sich um ihn; groß und aufrecht standen sie neben ihrem dicken, unbeherrschten Vater, der außer sich war vor Kummer, konfus vom Alkohol. Jetzt schlug er die Hände vors Gesicht, und Tränen quollen ihm durch die Finger; er stöhnte und schluchzte ununterbrochen. Wir anderen verharrten schweigend. Das war ein Soloauftritt.
»Vergib mir!« schrie Alan auf einmal. »Es tut mir so leid!«
Claud legte den Arm um ihn; Alan lehnte sich an seinen Sohn, murmelte vor sich hin und weinte weiter. Neben mir begann eine Frau, die ich noch nie gesehen hatte, leise in ein kleines Taschentuch zu schniefen. Erica, die mit Paul und Dad ein wenig abseits stand, putzte sich geräuschvoll die Nase und stieß einen kurzen, abgehackten Klagelaut aus. Ich dagegen fühlte mich klar und kalt wie das Wetter, denn ich hatte mich vor langer Zeit von Martha verabschiedet. Jetzt war ich im Begriff, ihre letzte Bitte abzuschlagen. Kümmere dich um Alan.
Kalte Erdklumpen prasselten auf den Sarg hinab. Nun lagen Martha und Natalie Seite an Seite. Alan weinte laut.
Helen hakte mich unter, und wir trennten uns von den übrigen, verließen den Weg und wanderten ein Stück zwischen den Grabsteinen.
»Sie sehen nicht gut aus«, bemerkte sie.
»Es ging mir auch nicht gut. Aber ich glaube, jetzt wird es besser. Und was macht die Untersuchung?«
Sie lächelte. »Ich wollte es Ihnen erzählen. Wir haben eine Verwendung für eine der Listen gefunden. Am Montag veröffentlichen wir eine Erklärung. Alle männlichen Gäste, die sich am 27. Juli, dem Tag nach der Party, als man Natalie zum letztenmal gesehen hat, auf Stead oder in der
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