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Der Glaspavillon

Titel: Der Glaspavillon Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nicci French
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davon heraus. Es war von 1970. Ich blätterte es rasch durch: Die Seiten waren dicht beschrieben mit den Ereignissen des Tages.
    Ich nahm ein anderes heraus und noch eins. Überall das gleiche. Zumindest diese Art des Schreibens hatte Alan beibehalten. Von unten aus weiter Ferne hörte ich Stimmen und Geschirrgeklapper. Garantiert würde niemand heraufkommen.
    Es war nicht schwer, den Band zu finden, den ich suchte.
    Ich schlug ihn auf, ein Stück Papier flatterte heraus und landete zu meinen Füßen. Eilig blätterte ich die Seiten um, aber als ich beim 1. Juli ankam, bot sich mir ein gänzlich unerwartetes Bild: Überreste herausgerissener Seiten. Von Anfang Juli bis September war alles weg. Dann gingen die Eintragungen weiter wie zuvor. Ich war wie gelähmt. Fast reflexartig bückte ich mich und hob das Stück Papier auf, das aus dem Buch gefallen war: ein vergilbtes liniertes DinA-4-Blatt, in der Mitte gefaltet. Ich klappte es auf. Es sah aus, als wäre es hastig aus einem Notizblock gerissen worden. Kein Zweifel, es war Natalies Handschrift, mit blauem Kugelschreiber. Ich kannte ihre Schrift noch immer genausogut wie meine eigene. Der Brief lautete folgendermaßen:

    Ich weiß nicht, was es bringen soll, daß Du mir aus dem Weg gehst. Wir wohnen im selben Haus! Du weißt, was Du mir angetan hast. Du weißt, was jetzt passiert. Glaubst Du vielleicht, Du kannst sowieso nichts tun? Glaubst Du, Du kommst ungeschoren davon? Okay, Du brauchst nicht mit mir zu sprechen. Aber Du sollst wissen, daß ich tun werde, was ich tun muß, auch wenn es die ganze Familie zerstört. Ich werde alles verraten. Wenn ich mich danach umbringen muß, ist es mir auch egal. Ich kann es immer noch nicht fassen. Ich dachte, eine Familie wäre dazu da, um einen zu beschützen.
    Natalie.

    Mit einem Schlag war ich völlig ruhig. Ich faltete Natalies Brief wieder zusammen und legte ihn zurück zwischen die Seiten des Tagebuchs. Dann drehte ich mich um – und vor mir im Türrahmen stand Alan. Noch immer trug er seinen weiten Mantel und die Gummistiefel, die seine Schritte auf dem Treppenteppich gedämpft hatten. Er atmete schwer vor Anstrengung.
    »Ich denke, den Feldstecher findest du eher unten.«
    »Ich habe nicht den Feldstecher gesucht. Wo ist Claud?«
    »Unten. Wenn du schon in mein Arbeitszimmer einbrichst, Jane, dann solltest du nicht so unvorsichtig sein und das Licht anknipsen. Was hast du hier zu suchen, Jane? Aha, du hast dich in meine großartigen Werke vertieft.«
    »Ich habe dich gesehen, Alan.«
    »Ach, wirklich?«
    »Ich habe gesehen, wie du Natalie getötet hast. Ich habe gesehen, wie du sie erwürgt hast. Ich hatte es vergessen, aber jetzt erinnere ich mich wieder daran. Und ich habe auch den Beweis gefunden.«
    »Was meinst du mit ›gesehen‹? Und was für ein Beweis soll das sein?«
    Er trat auf mich zu. Ich versuchte, mich an ihm vorbei-zudrängen, aber er packte mein Handgelenk, und das Buch fiel polternd zu Boden. Vor Schmerz schrie ich laut auf, aber Alan stieß mich rücksichtslos auf einen Stuhl. Ich wollte aufstehen, aber er hinderte mich daran, indem er seine Hand auf meinen Hals drückte. Dann packte er meine Kehle mit beiden Händen.
    »Ist es das, was du gesehen hast? War es ungefähr so?«
    Ich brachte keinen Ton heraus. Ich konnte nicht atmen.
    Von Krämpfen geschüttelt, rang ich nach Luft. Dann ließ er mich plötzlich los. Während ich hustete und keuchte, bückte er sich langsam und hob das Tagebuch auf. Im Handumdrehen fand er Natalies Brief, faltete ihn auf und las ihn. Als er fertig war, legte er ihn zurück, klappte das Buch zu und reichte es mir.
    »Du hast deine Tochter vergewaltigt und getötet«, sagte ich.
    »Aber ich habe dich gesehen.«
    Da begann Alan laut zu schluchzen. Er schlug sich immer wieder an den Kopf, Rotz und Speichel liefen über sein Gesicht.
    »Du hast es getan, stimmt’s Alan?« schrie ich. »Du hast deine Tochter gefickt und sie dann umgebracht, nicht wahr?«

Ein dünnes Blutgerinnsel floß über sein Gesicht. Er berührte das Blut mit einem Finger und hielt ihn hoch.
    »Schuldig. Schuldig, schuldig, schuldig!«

    Dann sackte er langsam in sich zusammen. Langsam glitt er zu Boden und blieb dort sitzen, ohne ein Wort zu sagen, ohne meine Gegenwart zu beachten. Ich stand auf, packte das Buch und schlich mich auf Zehenspitzen an ihm vorüber.

    31. KAPITEL
    Ich wollte keinen Menschen sehen. Wie ein Dieb schlich ich mich die Treppe hinunter und verließ das Haus durch die

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