Der Glaspavillon
manchmal?«
Kim zuckte die Achseln. »Inzwischen nicht mehr.«
»Normalerweise fällt mir nichts ein, worüber ich mich mit diesen Herren unterhalten könnte«, fuhr ich fort.
»Ansonsten melden sich plötzlich wieder alte Freunde, die ich seit Ewigkeiten nicht gesehen habe, um mir zu sagen, wie leid es ihnen tut, daß Claud und ich uns getrennt haben. Ich werde den Eindruck nicht los, daß mich manche ganz gern bemitleiden. Alles in allem genieße ich es aber, allein zu leben.« Ich war selbst überrascht, wie fest meine Stimme klang. »Mitten am Tag sehe ich mir Filme im Fernsehen an, ich besuche Ausstellungen und wärme alte Bekanntschaften auf. Ich kann so unordentlich sein, wie ich will. Nur das Haus kommt mir schrecklich groß vor. Jahrelang haben wir zu viert darin gewohnt, und jetzt bin ich auf einmal die einzige. Manche Zimmer betrete ich gar nicht mehr. Irgendwann muß ich das Haus wohl verkaufen.«
Nicht nur, daß das Haus groß war – ich fühlte mich darin auch einsam. Also hielt ich mich dort so wenig wie möglich auf. Dabei hatte ich es früher sehr genossen, wenn Claud und die Jungen nicht da waren und ich ganz für mich sein konnte. Fast zwei Jahrzehnte lang war ich täglich außer Sonntag ins Büro gegangen und abgehetzt in ein chaotisches Haus zurückgekehrt, in dem die Jungen lautstark meine Aufmerksamkeit einforderten. Ich staubsaugte und bügelte, wusch die Wäsche, kochte und chauffierte die Kinder, als sie älter waren, zu immer bedenklicheren gesellschaftlichen Veranstaltungen. Ich gab Abendeinladungen für meine oder Clauds Kollegen, besuchte Weihnachtsaufführungen und ging im Sommer mit zu den Sportfesten. Ich zauberte aus einem leeren Kühlschrank Proviantpakete, spielte Monopoly, was ich haßte, und Schach, bei dem ich immer verlor – und träumte dabei stets von einem Buch am Kamin. Ich buk Kuchen für den Flohmarkt der Schule und werkelte noch spätabends in der Küche, um vor mir selbst als gute Mutter dazustehen, besonders nachdem meine eigene gestorben war. Ich ertrug den Krach der neuesten Hits, die mir das Gefühl gaben, alt zu werden, obwohl ich doch erst Mitte Dreißig war. Ich setzte mich mit Akne, schmollenden Gesichtern und Hausaufgaben auseinander und blieb im Schlafzimmer, während die Jungen ihre Partys feierten.
Abend für Abend tranken Claud und ich einen Gin Tonic vor dem Essen. Nacht für Nacht schreckte ich hoch, den Kopf voller Termine und Dinge, die ich erledigen mußte.
Morgens wachte ich müde und mit Kopfschmerzen auf, abends legte ich mich in dem Bewußtsein schlafen, daß mir vor lauter Verpflichtungen keine Zeit für mich blieb.
Jetzt ertönte keine dröhnende Musik mehr, es gab keine schmollenden Gesichter und keine Anrufe mehr um ein Uhr nachts aus Telefonzellen: »Mama, ich habe meine Mitfahrgelegenheit verpaßt. Kannst du mich abholen?« Es war niemand mehr da, ich konnte tun, wonach mir der Sinn stand. Nun besaß ich, was ich immer vermißt hatte: Zeit für mich. Aber da ich nicht wußte, was ich mit ihr anfangen sollte, füllte ich sie, so gut ich konnte. In diesem November arbeitete ich viel und blieb oft bis acht Uhr abends im Büro. Ich ging häufig aus. Es stimmt, daß ich unzählige Einladungen erhielt von Leuten, die meinten, mich aufheitern zu müssen, oder die einen zusätzlichen weiblichen Gast bei Tisch brauchten. Außerdem ging ich ins Kino, manchmal am hellichten Tag.
Wenn ich nach Hause kam, trank ich ein Glas Wein, rauchte ein paar Zigaretten und nahm mir einen Thriller mit ins Bett. Die dicken viktorianischen Schmöker, die zu lesen ich mir fest vorgenommen hatte, mußten warten. An Wochenenden besuchte ich Filmmatinees und ging spazieren. War es im Herbst immer so feucht? Eines Sonntags besuchte ich meinen Vater und kochte für ihn Mittagessen. Nachdem wir gegessen hatten, fragte ich ihn, ob ich mir seine Fotoalben ansehen könne. Ich suchte Fotos von Natalie, denn ich besaß selbst kein einziges von ihr. Claud und ich hatten Natalie nach und nach aus unserem Leben verdrängt. Jetzt wollte ich sie zurückhaben. Ich blätterte die alten Alben durch; häufig war sie nur verschwommen am Rand eines Fotos zu sehen oder kaum erkennbar auf den Gruppenbildern, die wir jeden Sommer machten: elf Gesichter blickten gebannt in die Linse. Da waren Alan und Martha – jung, schön und bester Stimmung; und dort meine Mutter – immer nur von der Seite, mit abgewandtem Kopf. Wie sehr sie es gehaßt hatte, fotografiert zu werden! Nachdem sie
Weitere Kostenlose Bücher