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Der Glaspavillon

Titel: Der Glaspavillon Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nicci French
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gern Geschichten, nur beherrschen es die meisten von uns nicht so gut wie Sie. Man schafft sich makellose Lebensinter-pretationen, denen man folgen kann wie der Tintenwolke eines Tintenfisches. Bin ich unfair, Jane?«
    Ich fühlte mich, als hätte ich plötzlich jede Orientierung verloren.
    »Ich weiß nicht. Ich weiß nicht, was ich sagen soll.«
    Alex tauchte in meinem Blickfeld auf und kniete sich neben mich. »Wissen Sie, was ich vermute, Jane? Sie haben die Taschenbuchausgabe der Freudschen Werke zu Hause. Zwar haben Sie sich früher vorgenommen, sie zu lesen, sind aber nie dazu gekommen, sondern haben nur darin geblättert und hier und dort ein wenig geschmökert.
    Außerdem kennen Sie ein, zwei Bücher über Psychotherapie und sind unter anderem darauf gestoßen, daß eine Analyse aus Gesprächen und Interpretationen besteht.
    Fakten und Dinge spielen keine Rolle, es zählt allein der Wert, den man ihnen beimißt. Stimmt das in etwa?«
    »Ich habe keine Ahnung von dem ganzen Zeug«, wandte ich ein. Ich wollte nicht klein beigeben. Er war sich seiner Sache so sicher.
    »Ich möchte, daß Sie das alles vergessen«, fuhr Alex fort. »Ich will Sie – zumindest für eine Weile – von Ihrer Begabung abbringen, Ihr Leben in ein Schema zu pressen.
    Ich möchte, daß Sie die Dinge in Ihrem Leben erkennen, die sich tatsächlich ereignet haben. Wir heben uns die Deutung für später auf, einverstanden?«
    »Ich bin überrascht, daß Sie glauben, es gäbe neben der Interpretation noch Tatsachen.«
    »Mir ist klar, daß Sie mir das nicht abnehmen. Wenn Sie wollen, können wir wochenlang hier sitzen, Spielchen machen und über den Sinn des Sinns philosophieren.
    Möchten Sie das?«
    »Nein.«
    »Bisher haben Sie mir die übliche Geschichte über das Erwachsenwerden und den Sommer der ersten Liebe erzählt.« Er stand auf und ging zurück zu seinem Stuhl.
    »Sagen Sie etwas über die peinlichen, unangenehmen Situationen.«
    »Reicht es nicht, daß Natalie schwanger war und ermordet wurde? Brauchen Sie noch mehr Unangenehmes?«
    »Aber Jane, Sie berichten über diesen herrlich idyl-lischen Sommer mit der Familie, die von jedermann bewundert wurde. Wo ist die Verbindung zu dem Mord?«
    »Wieso soll es denn eine geben? Natalie kann doch von jemandem ermordet worden sein, der nichts mit der Familie zu tun hatte, von jemandem, den wir noch nie gesehen hatten.«
    »Was denken Sie darüber, Jane?«
    »Wollen Sie meine Gefühle wissen?«
    »Nein, Ihre Gedanken, Überlegungen.«
    Ich schwieg ziemlich lange.
    »Mir fällt eigentlich nur eines dazu ein. Vielleicht bin ich dumm – das hat wahrscheinlich die Polizistin gedacht, mit der ich gesprochen habe –, aber ich muß immer an den Ort denken, an dem man Natalie gefunden hat. Das Versteck war fast perfekt, schließlich blieb ihre Leiche fünfundzwanzig Jahre unentdeckt und ist nur durch einen Zufall gefunden worden. Aber es ist wirklich sonderbar.
    Ich weiß nicht viel über Mörder, aber ich stelle mir vor, daß sie ihre Opfer in abgelegenen Wäldern vergraben oder sie im Moor oder in Gräben liegenlassen. Natalie wurde zuletzt am Fluß gesehen. Man hätte sie doch einfach ins Wasser werfen können. Aber sie wurde am Tag nach einer großen Party unter unserer Nase begraben, als jede Menge Leute in der Nähe waren. Ich verstehe das Ganze zwar nicht, aber über eins bin ich mir sicher: Es war nicht irgendein Vagabund auf der Durchreise, der sie angegriffen und dann sozusagen vor unserer Haustür begraben hat.«
    »So? Was wollen Sie mir außerdem sagen? Da muß doch noch was sein.« Alex ließ nicht locker.
    »Ich weiß nicht. Es liegt so lange zurück. Ich habe das Gefühl, daß Sie meinen Worten mehr Bedeutung beimessen, als sie wirklich verdienen.«

    »Stellen Sie mich auf die Probe.«
    Ich klammerte mich an der Couch fest.
    »Es gab Probleme, wie sie in allen Familien vorkom-men. Unsere traten vielleicht stärker hervor, weil wir uns so nahestanden und so oft sahen.«
    »Lassen Sie die Entschuldigungen, erzählen Sie einfach.«
    »Es ging immer nur um Kleinigkeiten. Man darf nicht vergessen, daß wir in einem Alter waren, in dem kleine Streitereien große Bedeutung haben. Natalie war gerade sechzehn geworden. Paul war achtzehn, er war auf dem Sprung nach Cambridge und absolut verrückt nach ihr.«
    »Hatten sie eine Beziehung?«
    »Natalie hat ihn abblitzen lassen. Heute kann man sich das nicht vorstellen, aber Paul war damals ein sehr schüchterner Teenager, aber einer von

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