Der Glaspavillon
Neuigkeiten verlief diese Sitzung mit Alex entspannter. Die Atmosphäre war freundlich, sogar ein bißchen erotisch. Ich fühlte mich sicherer, ich wußte, daß ich sagen durfte, was ich sagen wollte.
»Wie auch immer, Theo ist weder Bankmanager noch Künstler. Er ist irgendwas dazwischen, und es ist sehr schwierig, genau zu sagen, was er tatsächlich tut. Er ist Spezialist in Fragen des Informationsmanagements und arbeitet für eine Firma, die ihren Sitz in Zürich hat.
Außerdem liest er als Gastprofessor mal hier, mal dort.
Eine etwas postmoderne Aufgabenstellung, sehr gut bezahlt und ein bißchen abstrakt und philosophisch. Er reist ständig. Mal ist er auf einem Kongreß in Toronto, mal überwacht er eine Firmenfusion auf einem Schloß irgendwo in Bayern. Dagegen scheinen Leute wie ich, die an einem Ort wohnen und in der Nähe arbeiten, unvorstellbar altmodisch. Er war und ist faszinierend.
Vor diesem Sommer im Jahr 1969 habe ich Theo mehrere Jahre lang etwas aus den Augen verloren. Er ging in einer anderen Stadt zur Schule, und ich hatte einen jungen Mann als Freund, der nicht nur ein Motorrad besaß, sondern es auch zerlegen und wieder zusammen-bauen konnte, ohne daß eine Schraube übrigblieb. Auf seine Art ganz schön imponierend. Als wir uns Ende Juli auf Stead zu der Party für Alan und Martha trafen, habe ich mich Hals über Kopf in Theo verknallt. Er war über einsachtzig und hatte lange Haare, besuchte die sechste Klasse und machte in ungefähr zwölf Fächern die Abschlußprüfung. Außerdem las er Rimbaud und Baudelaire im Original und konnte Gitarre spielen. Ich meine, richtig, nicht nur klimpern, sondern Melodien, die ein bißchen an Leonard Cohen erinnerten. Ich war ihm voll und ganz verfallen. Hauptsächlich im geistigen Sinne.
Entschuldigung, ich schweife ab. Ich wollte eigentlich nur klarmachen, daß das der Sommer war, in dem Natalie und ich sozusagen erwachsen wurden. Die gegenseitige Entfremdung, die dabei stattfand, war ein Zeichen dafür, daß jede von uns selbständig wurde und anfing, ein eigenes Leben zu leben. Wie soll ich das beschreiben? Ich erinnere mich an ein Ereignis ungefähr eine Woche vor ihrem Verschwinden. Ich war in Kirklow. Eine Gruppe junger Leute saß vor einem Pub beieinander, trank und rauchte. Natalie war auch mit von der Partie. Sie hatte das Haar aus der Stirn gestrichen und lachte über irgendeine Bemerkung. Dabei sah sie auf, und unsere Blicke trafen sich. Sie lächelte mich an und schaute dann schnell weg.
Mir war klar, daß ich nicht hinübergehen und mich dazusetzen durfte. Ich glaube, der Schmerz, den ich empfinde, wenn ich an diesen Sommer zurückdenke, hat nicht nur mit Natalies Tod zu tun, sondern auch damit, daß ich plötzlich kein Kind mehr sein durfte und mich der Erwachsenenwelt stellen mußte.«
Nachdem ich geendet hatte, entstand ein langes Schweigen, das ich nicht brechen wollte. Ich hatte keine Angst mehr vor Gesprächspausen.
»Aha, damit ist ja alles geklärt«, sagte Alex in einem sarkastischen Ton, der mich empörte.
»Wie meinen Sie das – ›alles geklärt‹?« fragte ich.
»Das klingt doch wunderbar, Jane. Sie haben alles miteinander in Verbindung gebracht. Sie haben es geschafft, sich mit Natalies Tod abzufinden und ihn mit einer positiven Entwicklung in Ihrem eigenen Leben zu verknüpfen. Natalie ist gestorben, Sie sind erwachsen und Architektin geworden. So weit, so gut. Analyse beendet.
Herzlichen Glückwunsch.«
Ich war wie erschlagen. »Warum sind Sie so sarkastisch, Alex? Das ist gräßlich.«
»Lesen Sie gern, Jane?«
»Wozu wollen Sie das wissen?«
»Ich wette, Sie lesen gern Romane. Im Urlaub bestimmt jeden Tag einen.«
»Nein, ich lese ziemlich langsam.«
»Wollten Sie schon mal selbst einen Roman schreiben?«
»Machen Sie sich über mich lustig, Alex?«
»Nein, ehrlich, Jane, ich denke, Sie sollten es in Erwägung ziehen. Ich bin überzeugt, Sie können das. Aber tun Sie’s nicht hier bei mir. Sie sind eine intelligente Frau, und das, was Sie mir gerade erzählt haben, ist durchaus keine unglaubwürdige Aneinanderreihung Ihrer Erfahrungen. Darin liegt ja Ihre Begabung. Ich bin sicher, Sie könnten morgen in meine Praxis kommen und mir eine zweite Version Ihres Lebens präsentieren, eine andere Interpretation, die genauso überzeugend klingt. Wenn Sie über Ihr Leben absolut glücklich wären und alles zu Ihrer Zufriedenheit laufen würde, könnten Sie es damit eigentlich bewenden lassen. Wir erzählen alle
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