Der Glaspavillon
›Town drain‹ steht für ›down train‹; gemeint ist damit der Zug von Oxford nach London.«
»Vermutlich wirkt der Witz erst, wenn man das Buch gelesen hat.«
»Es ist eigentlich gar kein Witz. Eher eine Metapher für ein ernüchterndes Aufwachen aus einem verzauberten Zustand.«
»Danke, für den erhellenden Vortrag, Jane. Vielleicht sollte ich Ihnen etwas zahlen?«
Ich zog eine Braue hoch.
»Das sollte jetzt wirklich ein Witz sein«, fügte Alex hastig hinzu.
12. KAPITEL
Als wir klein waren – acht oder neun Jahre alt – malten Natalie und ich uns abends vor dem Einschlafen immer aus, was wir werden wollten, wenn wir einmal groß waren. Ich sehe sie noch vor mir, wie sie im Nachthemd auf dem Bett kauerte, die Arme um die Knie geschlungen.
Wir würden beide schön und beliebt sein und viele Kinder kriegen. Wir würden für alle Zeiten Freundinnen bleiben und uns gegenseitig in unseren großen Landhäusern besuchen. Alles war möglich. Als ich verkündete, ich wollte Sängerin werden, kam mir überhaupt nicht in den Sinn, daß meine Stimme wie die eines Ochsenfroschs klang, sobald ich den Mund aufsperrte. Ein unmelodisches Krächzen. Immer wieder spielte mir meine Mutter auf unserem ramponierten Klavier, das Dad verkaufte, als sie starb, Töne vor, und ich versuchte dann, sie nachzusingen.
Wenn dann der ermutigende Ausdruck einfach nicht aus ihrem schmalen Gesicht verschwinden wollte, sondern dort sichtbar blieb wie eine Flagge, die unendliche Geduld signalisierte, wußte ich, daß es mir nicht gelungen war.
Also ließ ich die Idee mit der Sängerin fallen und wandte mich von nun an lieber den Dingen zu, die mir leichtfielen: Zeichnen, Schreiben, Rechnen. Was konnte man alles mit Zahlen anfangen? Ich war noch keine zehn Jahre alt, da wußte ich schon, daß ich Architektin werden wollte, wie mein Vater. Aus Kartons bastelte ich Modelle, auf Millimeterpapier, das ich aus seinem Schreibtisch geklaut hatte, zeichnete ich utopische Baupläne, und aus leeren Streichholzschachteln baute ich futuristische Apartmentblocks. So schuf ich mir mein eigenes Territorium, eine Welt, zu der niemand sonst Zutritt hatte.
Anfangs verkündete Natalie, sie wolle Ballettänzerin werden, dann war ihr größter Wunsch eine Karriere als Schauspielerin, und schließlich entschied sie sich für Fernsehansagerin. Auf jeden Fall wollte sie im Rampen-licht stehen. Als sie älter wurde, verbrachte sie endlose Stunden vor dem Spiegel, starrte in ihr blasses Gesicht und war sozusagen ihr eigenes Publikum. Dabei wirkte sie jedoch nicht eitel, sondern so kühl und objektiv in ihrer Selbsteinschätzung, daß es mir schon auf die Nerven ging.
Für mich waren Spiegel eine Instanz, bei der ich mir regelmäßig einen Rüffel abholte und nur ganz selten eine angenehme Überraschung erlebte.
Während ich mir überlegte, was ich anziehen sollte, dachte ich an Natalie. Detective Sergeant Helen Auster wollte mich in meinem Büro aufsuchen. Anschließend war ich mit Paul zum Lunch verabredet. Würde es mich stören, hatte er sich ganz beiläufig erkundigt, wenn seine Assistentin auch dabei war? Sein Projekt war angenommen worden, die Produktion der Fernsehdokumentation war im Gang, der Programmdirektor hatte bereits einen Sendetermin im Frühjahr festgelegt. Ich wählte eine schwarze Weste zu meiner burgunderroten Seidenbluse und der engen schwarzen Hose; dann fahndete ich nach meinen schwarzen Stiefeln. Doch, es machte mir etwas aus. Seit ich wußte, daß Natalie schwanger gewesen war, erfaßte mich immer wieder die nackte Panik. Und als ich nun mit dem Fahrrad durch die Straßen Londons fuhr, dachte ich: Niemand, der mich so sieht, merkt, daß ich am Abgrund des Schreckens lebe.
Vor ein paar Tagen hatte ich Kim von Natalies Schwangerschaft erzählt. »Die Arme«, hatte sie nur gesagt, aber in ihren Augen standen Tränen, und ihr Mitgefühl erschreckte und beschämte mich. Ich hatte versucht, ein technisches Problem zu lösen. Hatte ich dabei wirklich an meine Freundin gedacht? Hatte ich überhaupt versucht, mir vorzustellen, was sie durchgemacht haben mußte?
Kim unterbrach meine Grübelei.
»Es gab eine Zeit, da wollte ich unbedingt schwanger werden. Als ich mit Francis zusammen war.«
»Das wußte ich gar nicht.«
»Damals schien mir das eine gute Idee zu sein. Aber es hat nicht geklappt. Wir haben alles mögliche probiert und uns sogar beide untersuchen lassen, aber es kam nichts dabei heraus. Na ja, jetzt ist Francis verheiratet
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