Der Glaspavillon
Jahrzehnte in Pubs und Restaurants wie diesem hier verbracht und seinen nächsten Roman ausgeplaudert.«
Ohne auf meine Bemerkung einzugehen, tunkte Paul ein Stück Brot in seine Artischockensuppe und nahm einen großen Schluck Rotwein.
»Über Natalie hat er eigentlich nicht viel gesagt, aber er hat mir ein paar Fotos gegeben. Martha hat sich zwar nicht direkt geweigert, mit mir zu sprechen, aber als ich das Tonband eingeschaltet hatte und ihr ein paar Fragen stellte, hat sie mich bloß angelächelt – ein sehr trauriges, dünnes Lächeln – und den Kopf geschüttelt. Sie wirkt nicht gerade glücklich, Jane.«
»Sie ist krank«, erwiderte ich und fragte dann: »Was ist mit den anderen?«
»Sie werden allesamt auspacken. Schließlich will jeder mal ins Fernsehen. Theo beispielsweise glaubt, das Zeug zu einem echten Teleguru zu haben. Mit Alfred und Jonah kann ich wohl auch rechnen, und Claud ist ausgesprochen hilfsbereit.« Er warf mir einen raschen Seitenblick zu, und auch Bella musterte mich neugierig. »Es wird hochinteressant, Jane. Und eine große Sache, denke ich. Wahrscheinlich werden wir eine Art Waltons.«
»Ich glaube, ich möchte doch ein bißchen Wein«, meinte ich.
»Was wollt ihr von mir wissen?«
Bella beugte sich vor und stellte das Tonbandgerät ein.
»Ist das in Ordnung«, erkundigte sie sich, aber am Ende des Satzes war kein Fragezeichen zu hören. Schließlich ging es doch ums Fernsehen. Was konnte ich dagegen einzuwenden haben?
Es ist seltsam, ja eigentlich erschreckend, daß man vor einem Tonbandgerät und einem Publikum von Millionen anonymer Zuhörer Dinge sagen kann, die man einem Freund oder Liebhaber nie anvertrauen könnte oder wollte.
Oder einem Bruder. Paul fragte mich nach meinen Erinnerungen an Stead (»erzähl einfach, was dir gerade einfällt«), und während sich die Spulen im Aufnahmegerät drehten und Bellas Stift emsig über die Seiten ihres Notizbuchs glitt, kramte ich Erinnerungen hervor, von denen ich nicht einmal gewußt hatte, daß sie in meinem Gedächtnis haftengeblieben waren. Krocket auf dem Rasen, wildes Fangenspielen, Expeditionen durch den Wald unter Clauds Führung, geheime Mitternachtsgelage, für die wir das Essen aus der stets üppig gefüllten Speisekammer von Stead stibitzten, der sabbernde Retrie-ver mit den herabhängenden Lefzen, den die Martellos früher hatten (hieß er nicht Candy?) und der unbeholfen in den Bach sprang, um Stöckchen zu apportieren. Ich erinnerte mich an die unter grünen Schutznetzen verborgenen Himbeeren, die wir an heißen Nachmittagen pflückten, an die Tage, die wir mit Marmeladeeinkochen verbrachten (Stachelbeeren, Brombeeren, Erdbeeren, Pflaumen), an Sonnenbrand, der kribbelte, wenn wir einander Creme auf die Schultern schmierten, lärmende Picknicks, bei denen wir uns alle nach Herzenslust produzierten und Alan uns mächtig anstachelte. Ich erinnerte mich an frühe Morgenstunden, in denen noch der Tau auf dem Gras lag, an lange Abende, an denen die Erwachsenen spät zu Abend aßen und wir das Geklapper von Tellern und Messern hörten und das leise Gemurmel ihrer Unterhaltung. Ich erinnerte mich daran, wie wir mit bloßen Füßen in unsere Gummistiefel schlüpften, den Garten zu der großen Blutbuche hinunterrannten und uns auf der Schaukel über den Bach schwangen. In meinen Erinnerungen tauchten wir Kinder stets als Gruppe auf, während die Erwachsenen brav im Hintergrund blieben, und immer schien die Sonne. Doch das war anscheinend nicht das, was Paul von mir wollte.
»Es ist interessant«, sagte er, »daß du dich nur an die Zeit als kleines Mädchen erinnerst. Was ist mit später, als du ein Teenager warst?«
Plötzlich schmeckte der Wein in meinem Mund schal.
Warum hatte ich mich auf dieses Spielchen eingelassen?
Ich wollte aussteigen, und zwar sofort.
»Möchtest du über den Sommer reden, in dem Natalie verschwunden ist? Ist es das, worum es dir geht?«
»Erzähl darüber, wenn du magst.«
»Ich erinnere mich daran, wie du gelitten hast, Paul. Ich habe beobachtet, wie Natalie dich gedemütigt hat, und ich habe mir den Kopf zerbrochen, was ich dagegen unternehmen könnte …«
»Was soll der Quatsch?« unterbrach Paul mit scharfer Stimme. Sofort schaltete Bella das Gerät ab und legte den Stift aus der Hand. »Wofür hältst du dich eigentlich, Jane?«
»Was meinst du damit?«
»Tu nicht so unschuldig. Du weißt genau, was ich meine. Du zerstörst absichtlich die Erinnerung an jenen Sommer, stimmt’s?
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