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Der Glaspavillon

Titel: Der Glaspavillon Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nicci French
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er hätte es getan, aber er argumentierte immer nur ganz sachlich und vernünftig: In der Gynäkologie habe man bisher die Ressourcen maßlos verschwendet, und er sorge lediglich für etwas mehr Effizienz. Dank des neuen Vertragssystems waren die neuen Ärztinnen außerdem wesentlich kooperativer und flexibler. Vielleicht gehört Claud zu den Leuten, die große Reformen durchsetzen –
    ein Mensch mit grundsätzlich konservativer Gesinnung, der bestimmte notwendige Veränderungen akzeptiert, um von der althergebrachten Ordnung soviel wie möglich zu retten. Möglicherweise stimmt das. Aber ich empfand seine Fähigkeit, kühl und rational zu argumentieren, irgendwann nur noch abstoßend.
    Clauds Triumphe trugen maßgeblich dazu bei, mir über meine Gefühle zu ihm klarzuwerden. Wenn ich trotz all dessen, was er erreicht hatte, nichts für ihn empfand, mußte unsere Ehe wirklich in einer Krise stecken. Aber wie geht eine Ehe eigentlich kaputt? Manchmal wünschte ich mir beinahe, ich hätte Claud mit seiner Sekretärin im Bett erwischt oder mit einer der Krankenschwestern, die ihn allesamt anbeteten. Doch er wäre nie auf die Idee gekommen, mich zu betrügen, ich wußte, er würde mir treu bleiben, bis einer von uns starb – wenn vielleicht auch nur aus dem einfachen Grund, daß es Zeugen gab, die gesehen hatten, wie er am 28. Mai 1973 auf dem Standesamt ein Dokument unterzeichnete, das ihn zur Treue verpflichtete. Es waren lauter Kleinigkeiten, die mich störten – und andere Kleinigkeiten, die ich vermißte.
    Natürlich auch Sex. Gehört in die Kategorie »Kleinigkeiten, die ich vermißte«. Als wir frisch verheiratet waren, hatten wir ein leidenschaftliches Liebesleben, und Claud war auf eine elegantlässige Art im Bett ziemlich gut.
    Damit meine ich nicht irgendwelche raffinierten Praktiken
    – es funktionierte einfach. Für Claud war Sex nicht nur ein körperliches Bedürfnis, sondern Teil von Zuneigung, Freundschaft, Humor, Zärtlichkeit und Rücksicht, und das in einem viel größeren Ausmaß, als ich es je bei einem Mann erlebt habe. Natürlich ist meine Erfahrung auf diesem Gebiet nicht sehr umfassend, denn die Männer, mit denen ich geschlafen habe, kann man an den Fingern zweier Hände abzählen.
    Den größten Teil meiner Teenagerzeit empfand ich Claud als einen Vertreter der Sorte Mensch, die Jerome und Robert in ihrer Teenagerzeit als Blödmann bezeichne-ten. Im Alter von ungefähr drei Jahren bekam Claud eine Brille, und er war immer furchtbar ernst, ihm fehlte das Charisma, das Theo und später auch die Zwillinge so selbstverständlich ausstrahlten. Er war hartnäckig, ausdau-ernd, aber nie der strahlende Mittelpunkt. In dem schrecklichen Jahr nach Natalies Verschwinden, als es fast so aussah, als würde die Familie Martello an ihrem Kummer zerbrechen, kamen wir uns näher. Auch das war ein Beispiel hartnäckiger Entschlossenheit. Claud hatte es offensichtlich darauf angelegt, mich zu betören, und er tat das so, daß jeder es merkte. Aber es funktionierte. Dem anderen seine Zuneigung unverhohlen zu zeigen ist durchaus eine Möglichkeit, in ihm ebenfalls Sympathie zu erwecken, es kann aber auch leicht das Gegenteil bewirken.
    Claud jedoch hatte Erfolg. Sexuell lief lange Zeit gar nichts: Damals ging ich mit einer ganzen Reihe von Jungen aus, und Claud wurde einfach ein guter Freund.
    Wenn er im Internat war, schrieben wir uns lange, interessante Briefe, und zu meiner Überraschung erwischte ich mich dabei, wie ich ihm Dinge anvertraute, über die ich mit keinem anderen Menschen sprach. Wir stellten keine Ansprüche aneinander, wir produzierten uns nicht, aber während meines ersten Studienjahrs merkte ich plötzlich zu meinem Schrecken, daß Claud mein bester Freund geworden war. Er hatte gerade angefangen, mit Carol Arnott auszugehen; sie war seine erste richtige Freundin, wie er mir unter vier Augen gestand, und ich staunte, daß ich tatsächlich eifersüchtig war.
    Das war 1971, Jimi Hendrix war gerade gestorben (oder irre ich mich?). Am besten erinnere ich mich noch an die Klamotten, die man damals trug: Pannesamt, Schlaghosen, dünne Baumwollhemden mit weit herabwallenden Ärmeln
    – wie mittelalterliche Minnesänger –, Lilatöne, die ich erst Anfang der Neunziger wieder zu tragen wagte. Ich war neunzehn und Claud einundzwanzig. Kaltblütig machte ich mich daran, ihn der armen Carol auszuspannen, was mir mühelos gelang. Unsere erste gemeinsame Nacht verbrachten wir auf einem furchtbar

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