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Der Glaspavillon

Titel: Der Glaspavillon Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nicci French
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meinen Erinnerungen –
    beziehungsweise meinen fehlenden Erinnerungen – an jenen Nachmittag am Flußufer, als Natalie zum letztenmal gesehen worden war. Diesmal wurde ich tatsächlich ein bißchen ungeduldig. Doch er blieb hartnäckig.
    »Ich höre Ihnen zu, egal, was Sie mir erzählen«, sagte er.
    »Aber es wäre mir recht, wenn Sie meine Beharrlichkeit verstehen könnten. Ganz am Anfang haben Sie etwas gesagt, was ich sehr interessant finde. Sie haben nämlich gesagt: ›Ich war dort.‹«
    »Ich erinnere mich nicht, ob ich genau diese Worte benutzt habe, aber das ist ja auch nicht so wichtig. Ich habe damit nur gemeint, daß ich am Flußufer war, in der Nähe der Stelle, an der Natalie zum letztenmal gesehen wurde. Sie dürfen nicht so viel hineininterpretieren.«
    »Ich interpretiere nichts hinein, ich höre Ihnen nur zu.
    Dafür bezahlen Sie mich schließlich. ›Ich war da. Ich war da.‹ Eine interessante Wortwahl, finden Sie nicht auch?«
    »Eigentlich nicht.«
    »Ich finde das sehr interessant.«
    Alex stand auf und begann, im Zimmer auf und ab zu gehen, wie immer, wenn er sich echauffierte. Hinter mir zu sitzen und für mich unsichtbar zu sein war in solchen Augenblicken nicht genug. Er wollte größer sein als ich, mich beherrschen.
    »Nur weil es um Worte und Emotionen geht, wollen Sie sich nicht festlegen. Bei Ihrer Arbeit würden Sie das nicht tun, stimmt’s? Wenn Sie einen Plan für das Haus hätten, das zwanzig Meter breit werden soll, und einen Bauplatz von nur fünfzehn Metern, dann würden Sie das Gebäude sicher nicht einfach hochziehen und hoffen, daß sich das Problem irgendwie von selbst löst. Nein, Sie würden einen neuen Plan entwerfen, der den Gegebenheiten des Bauplatzes gerecht wird.
    Vielleicht müssen wir die Ungereimtheiten in dem, was Sie mir gesagt haben, einfach ausbügeln. Sie haben gesagt, daß Sie aus einer perfekten Familie kommen, aber in dieser Familie ist ein Mord geschehen, und Sie behaupten, es kann keiner von außen gewesen sein. Wie können wir diese beiden Behauptungen unter einen Hut bringen? Sie sagen mir, daß Sie da waren, andererseits waren Sie aber nicht da. Wie soll das einen Sinn ergeben? Waren Sie tatsächlich nicht da, oder müssen wir Sie hinbringen?«
    »Wie meinen Sie das – mich hinbringen?«
    »Sie kommen zur mir und erzählen mir eine Geschichte voller schwarzer Löcher. Machen wir einen Handel, Jane.
    Ich verspreche, daß ich aufhöre, Sie zu drängeln. Wir reden über die Dinge, über die Sie reden möchten, jedenfalls vorerst. Aber« – er hob den Zeigefinger – »es gibt eine Ausnahme. Ich möchte, daß wir bei der Szene am Fluß bleiben, ich möchte, daß Sie sich dorthin zurückversetzen, daß Sie in die Szene hineingehen und sie erforschen.«
    »Alex, ich habe Ihnen alles über diesen Nachmittag erzählt, woran ich mich erinnere.«
    »Ja, ich weiß. Und Sie machen Ihre Sache auch sehr gut, vielleicht besser, als Sie wissen. Aber ich möchte, daß Sie jetzt nicht mehr versuchen, sich zu erinnern. Machen Sie sich frei davon. Ich würde gern die Übung von neulich wiederholen.«
    Also gingen wir erneut die einzelnen Schritte durch. Ich schloß die Augen, entspannte mich, und während Alex mit sanfter Stimme auf mich einredete, versuchte ich mich an den Fluß zurückzuversetzen, wie ich damals, an jenem Sommernachmittag dort gesessen hatte, den Rücken an den Felsen gelehnt. Inzwischen gelang es mir schon wesentlich besser. Beim erstenmal war ich mir vorgekommen wie auf einer von diesen angeblich dreidimen-sionalen Postkarten: Sie vermitteln einem den Eindruck von Tiefe, aber man kann nicht die Hand hineinstecken.
    Diesmal war es anders. Ich konnte mich darauf einlassen, ich war in einem Raum, den ich durchqueren, in einer Welt, in der ich mich verlieren konnte. Alex’ Stimme schien von weither zu kommen. Ich beschrieb ihm, wo ich war, ich setzte mich und lehnte mich mit dem Rücken an die trockenen, bemoosten Felsen am Fuß von Cree’s Top; links von mir schlängelte sich der Fluß in die Ferne, die letzten zerknüllten Papierschnipsel trieben um die Biegung vor mir. Rechts von mir sah ich die Ulmen am Waldrand.
    Von ferne fragte mich Alex’ Stimme, ob ich aufstehen könne, und es gelang mir mühelos. Konnte ich mich umdrehen? Ja, auch das war nicht schwer. Ich erklärte Alex, daß der Fluß jetzt rechts von mir war, also auf mich zuströmte und hinter mir um die Biegung weiterfloß; die Ulmen am Waldrand standen nun zu meiner Linken. Ich

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