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Der Glaspavillon

Titel: Der Glaspavillon Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nicci French
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gehen. Sie möchte dich sehen und hat mich gebeten, dich mitzubrin-gen. Ich fahre morgen ganz früh los.«
    »Sollten wir uns nicht lieber gleich auf den Weg machen?«
    »Ich fürchte, dazu bin ich nicht in der Lage.« Seine Stimme klang undeutlich. »Aber sie schläft jetzt ohnehin.«
    »In Ordnung, Fred. Um wieviel Uhr?«
    »Ich hole dich so gegen fünf ab, dann kommen wir nicht in den Berufsverkehr und können um acht dort sein.
    Morgens geht es ihr am besten. Sie schläft fast den ganzen Nachmittag.«
    In letzter Zeit hatte ich diese Fahrt eindeutig zu oft gemacht: zum großen Pilzesuchen mit der Familie, zur Beerdigung, zu meinen unbeholfenen Aussprachen mit Martha und mit Chrissie. Fred hatte getrunken, aber ich konnte nicht beurteilen, ob heute früh oder gestern nacht.
    Ich bot ihm an, das Steuer zu übernehmen, aber er winkte ab. Schweigend fuhren wir in seinem Firmenwagen durch den dunklen Morgen. Lynn hatte ihm eine Kanne guten schwarzen Kaffee mitgegeben, dazu ein paar Sandwiches, in ordentliche Dreiecke geschnitten, dünn mit Pflaumen-mus bestrichen. Ich lehnte die Sandwiches ab, trank aber Kaffee. Als ich mir eine Zigarette anzündete, kurbelte Fred sofort das Fenster herunter. Ich steckte eine der Kassetten, die ich für Martha mitgenommen hatte, in den Recorder. Sofort erfüllten die Lieder von Grieg rein und klar das Auto.
    Als wir in Birmingham ankamen, fragte ich Fred:
    »Erinnerst du dich daran, wie sie uns immer vorgesungen hat? Beim Abendessen, auf Spaziergängen – plötzlich fing sie an zu singen. Sie hat nicht nur vor sich hingesummt oder uns zum Mitsingen animiert, nein, sie hat geschmettert, richtig laut geschmettert.«
    Fred knurrte etwas. Na ja, selbstverständlich erinnerte er sich daran. Aber ich war nicht zu bremsen.
    »Oder wie sie auf ihrem alten Fahrrad rumgeradelt ist, aufrecht im Sattel, die Haare flatterten im Wind. Wir haben sie oft ausgelacht, und trotzdem war sie immer als erste oben auf dem Hügel. Oder wie sie uns gezeichnet hat. Wir spielten miteinander und wußten nicht mal, daß sie da war, und auf einmal zeigte sie uns dann die fertige Skizze. Manche waren wunderschön. Ich frage mich, wo sie alle geblieben sind. Ich hätte gern eine davon.«
    »Ich weiß noch genau, wie sie immer im Gewächshaus saß.«
    Freds Stimme war barsch, und er hielt die Augen auf die Straße gerichtet. »Jeden Morgen ging sie zum Gewächshaus und setzte sich auf diesen hohen Hocker. Wenn wir aufstanden, fanden wir sie dann dort, vollkommen reglos, mit starrem Blick in Richtung Garten, wie ein Wach-posten. Irgendwie war das beruhigend. Was auch sonst passierte, Mum saß da und bewachte das Stück Welt, das uns gehörte. Nimm doch noch ein wenig Kaffee.«
    »Danke. Stört es dich, wenn ich noch eine Zigarette rauche?«
    »Nur zu.«
    Inzwischen hatten wir die Autobahn verlassen und folgten den Schildern nach Bromsgrove.
    »Fred, wegen Natalie …«
    »Nein.« Seine Stimme war scharf.
    »Ich wollte nur fragen … «
    »Ich habe nein gesagt, Jane. Später. Erst kommt Martha.
    Du mußt warten.«

    Marthas Zimmer war voller Blumen und Pralinenschach-teln, wie auf einer Krankenhausstation.
    »Es ist schon merkwürdig, daß die Leute immer denken, wenn man alt oder krank ist, braucht man Süßigkeiten«, lachte sie und bedankte sich für meine Kassetten. Fred reichte ihr die Karten, die seine Kinder für sie gemacht hatten. Martha betrachtete jede einzelne sehr aufmerksam und legte sie schließlich behutsam auf den Tisch neben ihrem Bett. Dann saßen wir da und konnten kaum unser Entsetzen darüber verbergen, wie schmal ihr Gesicht geworden war. Ihr Körper zeichnete sich kaum unter der Decke ab, ihre weißen Hände waren nur noch Haut und Knochen. Eine unbehagliche Pause trat ein, in der wir uns den Kopf darüber zerbrachen, welches Thema für ein Sterbebett geeignet wäre.
    »Genauso seltsam ist es«, fuhr Martha fort, »daß man in Situationen, in denen es einem am wichtigsten ist zu reden
    – wie jetzt, wo ich sterbe –, oft gleichzeitig das Gefühl hat, es wäre unmöglich. Oder peinlich. Alfred, du wolltest mich nach dem Garten fragen oder nach dem Wetter, stimmt’s? Dabei wirst du mich vielleicht nie wiedersehen.«
    »Mummy«, sagte Fred leise. Es war beinahe ein Schock, daß ein erwachsener Mann jemanden mit einem so kindlichen, vertraulichen Namen anredete. Ich blickte auf meine Hände hinunter, die ich in meinem Schoß gefaltet hielt.
    »Fred, mein Lieber, geh doch einfach ein Weilchen zu

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