Der Glaspavillon
Augen plötzlich mit Tränen. Ich hatte das Gefühl, als könnte ich mich endlich gehenlassen, als würden sich alle Schleusen gleichzeitig öffnen.
Ich hatte kaum aufgelegt, als das Telefon schon wieder klingelte. Diesmal war es Catherine, sie rief von einer Telefonzelle aus an. Paul sei gekommen, berichtete sie, und jetzt streite er sich mit Peggy, und die beiden versuchten nicht mal, leise zu sein. Es sei scheußlich, so scheußlich wie damals, bevor Paul endgültig gegangen sei.
Sie schrien sich an, und alles habe irgendwie mit Natalie zu tun – könnte ich ihr nicht bitte, bitte verraten, was eigentlich los sei? Leider konnte ich das nicht, denn ich wußte es selber nicht. Also faselte ich banales Zeug darüber, daß Paul und Peggy sie sehr liebhatten, was sie niemals vergessen dürfe. An diesem Punkt merkte ich, daß ich mit ihr wie mit einem sechsjährigen Kind redete, und hielt inne. Aber statt sauer zu werden und aufzulegen, fing Catherine an, laut zu schluchzen. Ich stellte mir vor, wie sie sich mit ihrem schönen schlanken Körper an die schmuddelige Zellenwand lehnte und Rotz und Wasser heulte; wie sie sich mit ihrem schwarzen T-Shirt die Tränen abwischte und ihre knochigen Ellbogen eiskalt wurden. Ich murmelte irgend etwas, und sie schluchzte weiter. Und während sie noch schniefte, war plötzlich das Geld alle.
Als Robert und Jerome klein gewesen waren, hatten sie sich so leicht trösten lassen. Ich konnte mich noch genau daran erinnern, wie sich ihre kleinen Körper dann an meinen schmiegten, wie sie den Kopf fest an meinen Hals drückten und die Beinchen entschlossen um meine Taille schlangen, während mein Kinn auf ihren weichen Haaren ruhte.
Doch irgendwann wollten sie nicht mehr, daß ich sie anfaßte. Eines Tages merkte ich, daß sie nicht mehr morgens zu mir ins Bett krochen. Und daß sie die Bade-zimmertür verriegelten. Wenn sie Probleme hatten, zogen sie sich in ihr Zimmer zurück, und ich mußte meinen Drang unterdrücken, ihnen nachzugehen und so zu tun, als könnte Mummy immer noch alles hinbiegen.
Seit dem Tag ihrer Geburt haben sie sich von mir entfernt. Mir fiel ein, daß meine Mutter kurz vor ihrem Tod sagte: »Das Beste, was ich dir schenken konnte, war deine Unabhängigkeit. Aber du hattest es immer so schrecklich eilig, von mir wegzukommen.« Kinder haben es immer eilig wegzukommen. Ich dachte an Robert am Strand; er war ungefähr fünf, sein Schuh war aufgegangen, und er heulte, weil wir nicht auf ihn gewartet hatten. Da stand er, eine kleine, stämmige Gestalt im endlosen. Sand.
Ich rannte zu ihm, bückte mich, um ihm zu helfen, aber er schubste mich weg: »Das kann ich allein!« Sie üben es so lange, erwachsen zu sein, und eines Tages merkt man dann, daß sie tatsächlich erwachsen sind. Wo war all die Zeit geblieben? Wie konnte es sein, daß ich plötzlich eine alleinstehende Frau mittleren Alters war, daß ich nie wieder die überschäumende Freude spüren würde, ein Kind auf dem Arm zu halten, mein Kinn an sein Köpfchen zu drücken und zu sagen: Sei nicht traurig, es wird alles gut, ich verspreche es dir.
Ich weinte mich in den Schlaf; von heftigen krampfhaf-ten Schluchzern geschüttelt lag ich da und hatte das Gefühl, als sei etwas in mir zerbrochen. Am nächsten Morgen – mit einem phantastischen eisblauen Himmel und kahlen Zweigen, die der Frost knacken ließ – zog ich meinen Trainingsanzug an, packte mein Shampoo und Jane Eyre in eine Umhängetasche und zog los, um mich mit Kim zu treffen. Jetzt lag ich neben ihr, mit geschlossenen Augen in der grün-weißen Umgebung, und sprach mit verträumter Stimme. Heute, mit Kim, konnte ich über alles reden. Worte trieben zwischen uns in der Luft, Wolken aus Erklärungen. Wasser plätscherte, kleine grüne Wellen tanzten über meine geschlossenen Augen.
Mein Körper war Wasser, mein Herz hatte sich aufgelöst, Gefühle durchströmten mich sanft wie ein geträumter Fluß.
»Mir scheint, ich bin ziemlich am Ende, Kim.«
»Wegen Natalie?«
Kim hielt meine Hand fest, unsere Finger schlossen sich umeinander, unsere Arme schaukelten zwischen den Sonnenliegen. War es Verzweiflung, was ich fühlte?
Verzweiflung mußte nicht immer hart und schneidend sein, sie konnte genausogut wie eine warme Flüssigkeit in jeden geheimen Winkel meines Körpers eindringen.
»Vielleicht war es ein Fremder. Eine Tragödie, bei der zufällig sie das Opfer wurde.«
»Ja.« Meine Stimme war nur noch ein Flüstern.
»Luke kommt als Täter
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