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Der Glöckner von Nôtre Dame - Hugo, V: Glöckner von Nôtre Dame

Der Glöckner von Nôtre Dame - Hugo, V: Glöckner von Nôtre Dame

Titel: Der Glöckner von Nôtre Dame - Hugo, V: Glöckner von Nôtre Dame Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Victor Hugo , Pößneck GGP Media GmbH
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Verzweiflung, und ihre Brust schien wie am ersten Tage durch Schluchzen springen zu wollen. Der Schmerz altert nicht, ob die Trauerkleider auch abgenutzt verbleichen; das Herz bleibt ewig verdunkelt. In dem Augenblick drangen frische, heitere Kinderstimmen in ihre Zelle. Ein Knabe sagte: „Heute wird die Zigeunerin gehängt.“
    Mit dem schnellen Sprunge, wie die Kreuzspinne sich auf die Fliege stürzt, war sie an der Luke. Sie sah eine Leiter am Galgen, und der Henker legte die durch Regen verrosteten Ketten zurecht. Einiges Volk stand in der Runde.
    Die Kinder waren schon weit entfernt. Die Klausnerin suchte mit dem Blick einen der Vorübergehenden, um ihn befragen zu können. Plötzlich bemerkte sie seitwärts von ihrer Zelle einen Priester, der dem Anschein nach in dem öffentlichen Gebetbuch las, der sich aber wirklich weit weniger um das vergitterte Buch bekümmerte als um den Galgen, wohin er von Zeit zu Zeit einen düsteren Blick warf. Sie erkannte in ihm den Archidiakonus von Notre-Dame, den heiligen Mann.
    „Vater“, fragte sie, „wer wird gehängt?“ Der Priester sah sie an und antwortete nicht. Sie wiederholte ihre Frage; da sagte er: „Ich weiß nicht.“ – „Kinder sagten, es wäre eine Zigeunerin.“ – „Ich glaube, ja.“
    Da brach Paquette la Chantefleurie in das Gelächter einer Hyäne aus. – „Schwester“, sprach der Priester, „Ihr haßt wohl die Zigeunerinnen?“ – „Ob ich sie hasse, sie sind Hexen und stehlen Kinder. Sie fraßen meine Tochter, mein Kind, mein einziges Kind! Ich bin ohne Herz! Sie fraßen mein Herz!“ Sie war furchtbar. Der Priester betrachtete sie mit kaltem Blick.
    „Eine besonders hasse ich“, begann sie aufs neue, „und verfluche sie, ein Mädchen in dem Alter, in dem jetzt meine Tochter sein würde, hätte die Mutter jener diese nicht gefressen. So oft die junge Viper bei meiner Zelle vorübergeht, regt sich in mir das Blut.“
    „Nun Schwester, freue dich“, sprach der Priester, starr wie eine Statue, „du wirst sie sterben sehen.“
    Sein Haupt fiel nieder auf die Brust, und er entfernte sich langsam. Die Klausnerin rieb sich vor Freude die Hände. „Ich hatte es ihr vorhergesagt, daß sie die Leiter dort hinaufsteigen würde! Dank dir, Priester!“ rief sie aus.
    Dann ging sie mit großen Schritten, mit fliegendem Haar, mit flammendem Auge vor ihrer Luke auf und ab, sie stieß die Mauern mit ihren Schultern und glich einer Wölfin im Käfig, die lange gehungert hat und merkt, es nahe die Stunde ihrer Mahlzeit.

35. Drei verschieden gebildete Männerherzen
    Phoebus war übrigens nicht gestorben. Menschen seiner Art haben ein zähes Leben. Als Meister Philipp Lheulier, außerordentlicher Advokat des Königs, der armen Esmeralda gesagt hatte: er stirbt, war es von seiner Seite Irrtum oder Scherz. Als der Archidiakonus der Verurteilten wiederholte: er ist tot, wußte er es zwar keineswegs, glaubte es aber, rechnete darauf, und zweifelte nicht daran, weil er die Hoffnung hegte. Gewiß konnte man auch nicht von ihm erwarten, daß er dem Mädchen, das er liebte, gute Nachricht von seinem Nebenbuhler überbringen sollte. Jeder Mann hätte an seiner Stelle ebenso gehandelt.
    Allerdings war die Wunde des Hauptmanns gefährlich gewesen, aber doch nicht in dem Grade, wie der Archidiakonus es hoffte. Der Heilkünstler, zu dem die Soldaten der Wache ihn im ersten Augenblicke getragen hatten, fürchtete acht Tage lang für sein Leben und sagte ihm dies sogar in lateinischer Sprache. Jugendkraft hatte aber die Oberhand behalten, und wie es oft, ungeachtet aller Annahmen geschieht, hatte die Natur es sich einfallen lassen, den Kranken zu retten und den Arzt zu verhöhnen. Während er noch auf seinem Bett lag, hatte er das erste Verhör von Philipp Lheulier und dem Untersuchungsrichter des geistlichen Gerichts überstanden, sich auch dabei nicht wenig gelangweilt. Als er daher an einem heitern Morgen sich recht gut befand, ließ er dem Apotheker seine goldenen Sporen als Bezahlung zurück und machte sich aus dem Staube. Übrigens war dies durchaus kein Hindernis hinsichtlich der Untersuchung. Die damaligen Richter bekümmerten sich durchaus nicht um Vollständigkeit in einem Kriminalprozeß. Sie wollten weiter nichts, als daß der Angeklagte gehängt wurde. Nun hatten ja aber die Richter schon genug Beweise gegen Esmeralda. Sie glaubten, Phoebus sei tot, und das genügte. Phoebus seinerseits war auch nicht weit geflohen, sondern begab sich ganz einfach nach

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