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Der Glöckner von Nôtre Dame - Hugo, V: Glöckner von Nôtre Dame

Der Glöckner von Nôtre Dame - Hugo, V: Glöckner von Nôtre Dame

Titel: Der Glöckner von Nôtre Dame - Hugo, V: Glöckner von Nôtre Dame Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Victor Hugo , Pößneck GGP Media GmbH
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Boden, und man vernahm kein anderes Geräusch im Kerker, als das Fallen der Wassertropfen, die auf den Pfuhl im Dunkel hinabsanken.

34. Die Mutter
    Es gibt wohl nichts Lieblicheres als die Gedanken, die im Herzen einer Mutter erwachen, wenn sie den kleinen Schuh ihres Kindes erblickt, hauptsächlich, wenn dieser ein Schuh für den Sonntag, für Feste, ein Taufschuh, bis zur Sohle gestickt ist, womit das Kind noch keinen Schritt tat. Ein solcher Schuh besitzt soviel Anmut und Zierlichkeit, daß es unmöglich scheint, mit ihm zu gehen; der Mutter scheint es dann, als ob sie ihr Kind erblickte. Sie lächelt ihm zu, küßt ihn, sprich mit ihm, fragt sich selbst, ob ein so kleiner Schuh möglich sei. Ist das Kind abwesend, so genügt der zierliche Schuh, der Mutter das geliebte und zerbrechliche Geschöpf vor Augen zu führen. Sie glaubt es gesund, lächelnd, heiter, mit zarten Händen, rundem Kopf, reinen Lippen, heiteren, blauen Augen zu erblicken. Hat aber die Mutter ihr Kind verloren, so wird der kleine Schuh statt eines Bildes der Zärtlichkeit und Freude ein Gegenstand der Pein für das Mutterherz. Nicht die Hand eines Engels hält ihr ihn vor, sondern die Kralle eines Teufels.
    An einem schönen Maimorgen hörte die Klausnerin im Tour-Roland ein Klirren von Wagenrädern und Eisenwerk auf dem Grèveplatz. Sie kümmerte sich kaum darum, legte ihre Haare über die Ohren, damit sie nicht mehr höre, und fuhr fort, den leblosen Gegenstand, den sie seit fünfzehn Jahren anbetete, zu betrachten. Der kleine Schuh war, wie wir schon sagten, für sie die Welt. Bei ihm sollten ihre Gedanken bis zum Tode verweilen. Wieviel bittere Verwünschungen, rührende Klagen, Gebet und Schluchzen sie bei diesem kleinen Stück rosafarbenen Atlas gen Himmel sandte, hat allein jene düstere Höhle des Tour-Rolland erfahren. An dem Morgen schien der Schmerz noch heftiger als gewöhnlich bei ihr hervorzubrechen, und man vernahm außen, wie sie mit herzzerreißender, lauter, einförmiger Stimme klagte.
    „Oh Tochter“, sprach sie, „meine Tochter! Mein liebes, teures Kind, ich werde dich nie mehr sehen. Es ist vorbei! Nie werde ich dich wiedersehen! Noch immer scheint es mir, als wäre es erst gestern geschehen. Gott! Gott! Warum nahmst du sie mir so schnell! Hättest du sie mir doch nicht gegeben! Weißt du nicht, daß die Kinder ein Teil unseres Leibes sind, und daß Mütter, denen man sie nimmt, nicht mehr an Gott glauben? – Ich Unglückliche, daß ich an dem Tage ausging! Oh Herr! Herr! Du sahst sie nie, wenn sie saugend, lächelnd an meiner Brust ruhte. Gott! Hättest du das gesehen, du hättest Mitleid gefühlt mit meinem Entzücken und mir nicht die einzige Liebe genommen, die meinem Herzen verblieb. War ich ein so elendes Geschöpf, Herr, daß du mich nicht anschauen konntest, bevor du mich verdammtest? Ach! Ach! Der Schuh! Wo ist der Fuß? Wo ist mein Kind? Tochter! Herr, gib sie mir zurück, auf einen Tag, eine Stunde, eine Minute! Nur auf eine Minute, und dann verstoße mich auf ewig in die Hölle! Meine Knie sind wund durch fünfzehn Jahre langes Gebet. Ist das nicht genug der Buße! Oh, wüßte ich, wo nur ein Zipfel deines Kleides sich hinschleppt, dort klammerte ich mich an mit beiden Händen, und du müßtest mir mein Kind zurückgeben! Oh Herr, hab Mitleid; kannst du eine arme Mutter zu fünfzehnjähriger Todesqual verurteilen? Heilige Jungfrau! Himmelskönigin, ach, gib mir mein Jesuskind. Man stahl es, fraß es auf einer Heide, trank sein Blut, benagte seine Knochen! Heilige Jungfrau, erbarme dich meiner! Oh meine Tochter! Was hilft es mir, daß sie im Paradiese weilt! Ich will keinen Engel, ich will mein Kind! Herr, bewahre mir mein Kind! Sieh, meine Arme sind zernagt; hat Gott kein Mitleid? Oh, gib mir nur Salz und schwarzes Brot mit meiner Tochter, sie wird mich gleich der Sonne erwärmen. Ach Gott! Herr, ich war eine Sünderin, durch meine Tochter ward ich aber fromm. Für sie war ich voll Liebe und Gottesfurcht; wenn sie lächelte, glaubte ich den Himmel zu schauen. Könnte ich nur einmal, ein einzig mal den Schuh über den schönen Fuß ziehen, dann würde ich sterben, dich, heilige Jungfrau, segnend. – Fünfzehn Jahre! Jetzt wäre sie erwachsen. – Unglückliches Kind! Nie werde ich dich wieder erblicken! Nicht einmal im Himmel! Dort darf ich nicht eintreten! Oh, welch Elend! Nur ihr Schuh! Sie ist für mich auf ewig verloren.“
    Die Unglückliche ergriff den Schuh, sei Jahren zugleich Trost und

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