Der Glöckner von Nôtre Dame - Hugo, V: Glöckner von Nôtre Dame
daß man sie verbrennt, ohne ihre Namen zu kennen. Es wäre dasselbe, als wollte man alle Namen der Wolken am Himmel wissen. Übrigens kann man darüber ruhig sein. Gott führt genau Buch.“ – Die alte ehrwürdige Dame stand auf und öffnete das Fenster. – „Gott!“ rief sie aus, „Phoebus, Ihr habt recht. Welch eine Masse Pöbel! Sogar auf den Dächern! Gott sei gelobt! Wißt Ihr, Phoebus, das erinnert mich an die Zeiten meiner Jugend, an den Einzug König Karls VII., bei dem auch solch Gedränge war. Ich weiß nicht mehr, in welchem Jahre. Wenn ich Euch das erzähle, so scheint Euch das wohl sehr alt, mir aber noch sehr neu. Oh, das Gedränge war noch ärger als jetzt und ging sogar bis an das Dach des Tores St. Antoine. Der König ritt mit der Königin hinten auf dem Sattel, und so alle Hoheiten und Herrschaften. Ich erinnere mich noch, man lachte sehr, weil neben Amanyon de Garlande, die von kurzem Wuchs war, ein Ritter von riesenhafter Gestalt saß, der die Engländer haufenweise getötet hatte. Das war schön. Es war eine Prozession aller französischen Edelleute mit ihren Oriflammen, Ritter mit Fahnen und Bannern. Was weiß ich? Ach! Wie wehmütig ist der Gedanke, daß es damals so viel Schönes gab, und daß jetzt alles dies verschwunden ist!“
Die beiden Verliebten hörten der ehrwürdigen Witwe schon lange nicht mehr zu. Phoebus hatte sich wieder über die Stuhllehne seiner Verlobten gebeugt und behauptete so einen lieblichen Posten, von wo sein lüsternes Auge in alle Öffnungen des Leibchens von Fleur-de-Lys drang.
„Phoebus“, sprach plötzlich leise Fleur-de-Lys, „in drei Monaten werden wir heiraten; schwört mir, daß Ihr nie ein anderes Mädchen liebtet.“
„Schöner Engel, ich schwöre es Euch! Ich schwöre es Euch!“ und sein leidenschaftlicher Blick vereinte sich, um Fleur-de-Lys zu überzeugen, mit dem aufrichtigen Ton seiner Stimme. Vielleicht glaubte er es selbst in dem Augenblicke. Entzückt, die Verlobten in so gutem Einverständnis zu sehen, verließ die gute Mutter das Zimmer, um irgendein häusliches Geschäft zu besorgen; Phoebus bemerkte es, und die Einsamkeit machte den mutigen Hauptmann so kühn, daß sonderbare Gedanken ihm in den Kopf kamen. Fleur-de-Lys liebte ihn; er war ihr Verlobter; sie war mit ihm allein im Zimmer; seine alte Neigung war wieder erwacht, zwar nicht mit aller Frische, aber mit aller Glut; auch ist es ja kein großes Verbrechen, wenn man von seinem Korn, wenn es noch grün ist, ein wenig speist; ich weiß nicht, ob ihm dergleichen Gedanken durch den Kopf gingen, aber Fleur-de-Lys wurde plötzlich durch den Ausdruck seines Blickes erschreckt. Sie sah im Zimmer umher und bemerkte, daß ihre Mutter sich entfernt hatte. „Gott!“ rief sie, schamrot und unruhig; „Wie heiß!“ – „Jawohl“, sagte Phoebus, „die Mittagssonne scheint. Wir brauchen ja nur die Vorhänge herabzulassen.“ – „Nein, nein“, rief die arme Kleine, „ich bedarf im Gegenteil der frischen Luft!“ Wie ein Reh, welches von weitem die Meute wittert, sprang sie auf, öffnete das Fenster und eilte auf den Balkon. Phoebus folgte ihr ein wenig verdrießlich. Der Platz von Notre-Dame, nach dem der Balkon, wie wir wissen, hinausging, zeigte in dem Augenblick ein sonderbares und unheilvolles Schauspiel. Ein ungeheures Gedränge, welches aus allen benachbarten Straßen herbeiflutete, füllte den größeren Platz. Die breiten Tore der Kirche waren geschlossen und bildeten einen Gegensatz zu den vielen Fenstern des Platzes, die offen standen und unzählige Köpfe zeigten.
Die Oberfläche dieses Gedränges war grau, schmutzig und erdfahl. Das erwartete Schauspiel war offenbar eines von denen, die die niedrigste Hefe der Bevölkerung herbeizulocken pflegen. Ein scheußlicher Lärm erhob sich aus dem Gewimmel gelber Kopfbedeckungen und struppiger Haare. Vo Zeit zu Zeit durchdrang eine scharfe, vibrierende Stimme den allgemeinen Lärm. „Ohe! He! Matthieu Valifre, wer wird da gehängt?“ – „Pinsel! Es ist nur die Buße im Sünderhemde. Gott spuckt ihr Latein ins Gesicht. Willst du den Galgen sehen, so geh auf den Grèveplatz.“ – „Nachher.“ – „Sag‘, ist es wahr, hat sie nicht beichten wollen?“ – „Ja, so scheint es.“ – „Das Heidenmädchen!“ –
„Herr, das ist so Sitte. Der Bailli des Palais übergibt den verurteilten Verbrecher zur Hinrichtung, wenn er ein Laie ist, dem Prévot von Paris; ist es ein Geistlicher, dem Offizial des Bischofs.“ –
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