Der Glöckner von Nôtre Dame - Hugo, V: Glöckner von Nôtre Dame
„Ich danke Euch, Herr.“
„Gott!“ rief Fleur-de-Lys, „das arme Geschöpf.“
Dieser Gedanke gab dem Blick, den sie über das Volk schweifen ließ, einen traurigen Ausdruck. Der Hauptmann beschäftigte sich unterdes mehr mit ihr als mit dem Pöbelhaufen und zerknitterte das Band ihres Gürtels. Sie wandte sich bittend und lächelnd zu ihm um. – „Bitte, Phoebus, laßt mich. Wenn meine Mutter wieder einträte, sähe sie Eure Hand.“
In diesem Augenblick schlug die Glocke von Notre-Dame langsam zwölf Uhr. Ein Murmeln der Zufriedenheit erhob sich im Volke. Die letzte Bewegung des zwölften Schlages war kaum erloschen, als alle Häupter sich wie Wogen vor dem Winde aufrichteten. Der Ruf: „Da ist sie!“ erscholl von Dächern, Fenstern und vom Pflaster.
Fleur-de-Lys hielt beide Hände vors Gesicht, um nicht zu sehen. „Schöne“, sprach Phoebus, „wollt Ihr wieder hereintreten?“ – „Nein“, erwiderte sie und öffnete aus Neugier wieder die Augen, die sie aus Scheu geschlossen hatte. Ein Karren, gezogen von einem starken normannischen Gabelpferd, das durch ein violettes Tuch mit weißen Kreuzen ganz verhüllt ward, kam auf den Platz. Mit Hieben bahnten die Sergeanten der Wache ihm den Weg. Neben dem Karren ritten mehrere Beamte der Gerechtigkeit und der Polizei; an ihrer Spitze paradierte Meister Jacques Charmolue. Auf dem unheilvollen Wagen saß ein Mädchen mit auf den Rücken gebundenen Armen; kein Priester befand sich ihr zur Seite. Sie war im Hemde, ihr langes schwarzes Haar (damals war es Sitte, das Haar erst unter dem Galgen abzuschneiden) fiel ihr über den Nacken und die halbentblößten Schultern.
Über diesem wogenden Haar schlang ein dicker, rauher und grauer Strick einen Knoten und rollte sich um ihren schönen Hals, wie ein Regenwurm um eine Blume. Auf dem Strick glänzte ein kleines Amulett von grünem Glas, das man ihr wohl deshalb gelassen hatte, weil man einem Sterbenden nichts verweigert. Die Zuschauer von den Fenstern konnten im Karren ihre nackten Beine erkennen, die sie mit dem instinktartigen Schamgefühl eines Weibes unter sich zu verbergen suchte. Zu ihren Füßen lag eine kleine geknebelte Ziege. Die Verurteilte hielt ihr lose gebundenes Hemd mit den Zähnen. Es schien, sie empfand ihr Unglück noch schmerzlicher, da sie allen Blicken so nackt preisgegeben ward. Ach! Die Scham gilt nichts in so furchtbaren Lagen.
„Jesus!“ sprach heftig Fleur-de-Lys, „seht doch, schöner Vetter, es ist die abscheuliche Zigeunerin mit der Ziege.“ So sprechend wandte sie sich um; er hatte das Auge auf den Karren geheftet und war sehr blaß.
„Welche Zigeunerin?“ fragte er stammelnd. – „Wie! Erinnert Ihr Euch nicht …“ – Phoebus unterbrach sie: „Ich weiß nicht, was Ihr meint.“
Er wollte zurücktreten, allein Fleur-de-Lys, deren Eifersucht noch kürzlich durch diese Zigeunerin so heftig erregt ward und jetzt wieder erwachte, warf ihm einen durchdringenden mißtrauischen Blick zu. Sie erinnerte sich dunkel, sie habe gehört, ein Hauptmann sei in den Prozeß verwickelt.
„Was habt Ihr?“ fragte sie Phoebus, „es scheint, dies Weib macht Euch verlegen?“ – Phoebus suchte zu lächeln: „Mich? Nicht im geringsten. Nun, ja.“ – „So bleibt“, erwiderte sie unerschüttert; „sehen wir beide bis zum Schlusse zu.“
Der Hauptmann mußte nun wohl bleiben. Ein wenig ward er dadurch beruhigt, daß die Verurteilte den Blick von dem Boden des Karrens nicht aufschlug. Es war nur zu wahr, Esmeralda saß auf dem Karren. Auf dieser letzten Stufe der Schmach und des Unglücks war sie aber noch immer schön. Im übrigen schien alles bei ihr unbestimmt zu schwanken; außer der Scham schien sie durch nichts erregt zu werden, so sehr war ihr Gefühl durch stumpfe Verzweiflung gebrochen. Ihr Körper fuhr bei jedem Rütteln des Karrens in die Höhe wie eine Leiche; ihr Blick war düster und starr. In ihrem Augapfel schimmerte zwar noch eine Träne, diese aber schien unbeweglich und gleichsam gefroren.
Der düstere Zug durchzog die Masse unter allgemeinem Geschrei der Freude und der Neugier. Wir müssen aber als treue Historiker berichten, daß manche, und selbst die Härtesten, Mitleid empfanden, als sie die schöne, unglückliche Esmeralda erblickten. Der Karren fuhr in den Vorhof und hielt vor dem Portal. Die Wache stellte sich an beiden Seiten in Schlachtordnung. Die Menge schwieg, und mitten in dieser angstvollen feierlichen Stille öffneten sich die beiden
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