Der Glöckner von Nôtre Dame - Hugo, V: Glöckner von Nôtre Dame
unversöhnliche Liebe, die das Weib nur zum Galgen, ihn selbst zur Hölle führte, für Esmeralda das Todesurteil, für ihn die ewige Verdammnis. Dann begann er zu lachen; denn er dachte, Phoebus lebe; der Hauptmann sei munter und heiter, trage ein schöneres Wams denn je, und besitze eine neue Geliebte, die er hinführe, zu schauen, wie die frühere den Tod erleide. Sein Lacher der Verzweiflung verdoppelte sich, wenn er bedachte, daß von allen lebendigen Wesen, deren Tod er erstrebte, er nur die Zigeunerin nicht verfehlte, das einzige Geschöpf, das er nicht haßte.
Und wenn er dann wieder das Glück zu ahnen suchte, das ihm auf der Erde hätte zuteil werden können, wäre er nicht Priester, wäre sie nicht Zigeunerin, hätte sie Phoebus nicht erblickt und ihn, den Archidiakonus, geliebt; wenn er dachte, ein Leben voll Heiterkeit und Liebe sei auch ihm möglich gewesen; auf der Erde gäbe es hin und wieder glückliche Paare, die beim Anblick der Abendsonne oder der gestirnten Nacht am Ufer der Quellen und in Orangenhainen unter süßem Gespräche schwelgten; hätte Gott es gewollt, so wäre er mit ihr ein gesegnetes Paar geworden. Dann zerschmolz sein Herz in Zärtlichkeit und Verzweiflung. Dann quälte ihn der Gedanke, jetzt sei vielleicht der Augenblick, wo die scheußliche Kette, die er am Morgen erblickte, die scheußliche Schleife, den schönen, schlanken Hals zuschnürte. Schweiß drang aus allen seinen Poren. Dann lachte er wieder teuflisch, wenn er bedachte, wie er Esmeralda am ersten Tage heiter, sorglos, geputzt, tanzend, geflügelt, und an ihrem letzten Tage im Hemd erblickte, wie sie langsam, mit nackten Füßen die eckige Leiter des Galgens hinaufstieg. Dies doppelte Bild machte einen solchen Eindruck auf ihn, daß er einen furchtbaren Schrei ausstieß.
Während dieser Orkan der Verzweiflung seine Seele durchtobte, zerriß und niederbeugte, beschaute er rings um sich die Natur. Zu seinen Füßen durchsuchten Hühner pickend ein Gesträuch, strahlende Käfer erhoben sich zur Sonne, über seinem Haupte flohen graue Wolken am Himmel vorüber; die Turmspitze der Abtei St. Viktor strebte vom schiefernen Obelisk empor; ein Müller betrachtete pfeifend, wie die arbeitenden Schwingen seiner Mühle sich regten. Dies tätige, geordnete, ruhige Leben erweckte aufs neue seinen Schmerz; er stürzte weiter. Bis zum Abend rannte er durchs Feld. Diese Flucht vor Natur, Leben, Gott und Menschen dauerte den Tag hindurch. Bisweilen stürzte er mit dem Antlitz zu Boden und wühlte mit den Nägeln das emporkeimende Korn aus der Erde. Bisweilen stand er in einsamen Dorfgassen still; dann nahm er sein Haupt zwischen die Hände, suchte es von den Schultern zu reißen und auf dem Pflaster zu zerschmettern; so unerträglich waren seine Gedanken.
Als die Sonne unterging, überdachte er seine Stimmung und fühlte sich dem Wahnsinn nahe. Der Sturm, der in ihm von dem Augenblick an wütete, wo er Hoffnung und Willen, die Zigeunerin zu retten, verloren hatte, ließ ihm nicht einen ruhigen und gesunden Gedanken. Seine Vernunft war fast gänzlich untergraben; in seinem Geiste weilten nur zwei deutliche Bilder, Esmeralda und der Galgen; alles andere war verdunkelt. Beide Vorstellungen zeigten ihm eine furchtbare Gruppe; je fester er hierauf alle ihm noch übrige Denkungskraft richtete, stieg in phantastischer Steigerung der Reiz, die Schönheit, das Licht der einen, die Schrecken der anderen, so daß Esmeralda ihm zuletzt wie ein Stern, der Galgen wie ein ungeheurer, fleischloser Arm erschien. Es ist bemerkenswert, daß der Unglückliche während dieser Folter nie daran dachte, sich selbst zu töten. So war sein Charakter; er hing am Leben; vielleicht schaute er wirklich die Hölle jenseits der Grenze seines irdischen Daseins.
Es ward immer dunkler. Das ihm noch verbliebene Lebensgefühl mahnte ihn an die Rückkehr. Er wähnte von Paris weit entfernt zu sein, fand aber, als er sich orientierte, daß er nur die Ringmauer der Universität umwandelt hatte, und er schlug einen Fußweg ein, der ihn in wenigen Augenblicken nach Paris zurückführte. Er scheute sich vor jedem Menschenantlitz und wollte nur so spät als möglich in die Stadt zurückkehren. Als er endlich zum Seineufer gelangte, fand er einen Schiffer, der ihn für einige Heller den Strom hinabfuhr und ihn am Grèveplatz ans Land setzte. Das einförmige Schaukeln des Kahnes und das Brausen des Wassers hatten den unglücklichen Claude einigermaßen betäubt. Die ihn
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