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Der Glöckner von Nôtre Dame - Hugo, V: Glöckner von Nôtre Dame

Der Glöckner von Nôtre Dame - Hugo, V: Glöckner von Nôtre Dame

Titel: Der Glöckner von Nôtre Dame - Hugo, V: Glöckner von Nôtre Dame Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Victor Hugo , Pößneck GGP Media GmbH
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umgebenden Gegenstände erblickte er nur durch vergrößerte Schwingungen, die ihm eine Art Nebelbild aus dem Ganzen bildeten.
    Als er wieder die Straßen betrat, erschienen ihm die Vorübergehenden, die beim Schein der Kaufmannsläden sich drängten, als hin und her wandelnde Gespenster. Sonderbares Geräusch schwirrte ihm in den Ohren, sonderbare Phantasien verwirrten seine Gedanken. Er sah weder Häuser, noch Wagen, noch das Pflaster, noch Männer und Frauen, sondern nur ein Chaos verwirrter Gegenstände, deren Umrisse ineinander verschwammen. An einer Straßenecke war ein Gewürzladen, dessen Schirmdach nach uraltem Gebrauch rings mit blanken eisernen Reifen besetzt war, woran im Kreise hölzerne Lichter hingen, die im Winde wie Kastagnetten klapperten. Er glaubte, im Dunkel das Bündel der Skelette von Montfaucon klappern zu hören.
    „Oh!“ murmelte er, „der Nachtwind schlägt sie aneinander und mischt das Klappern ihrer Knochen mit dem Klirren der Ketten. Vielleicht hängt auch sie hier!“
    Als er auf die Brücke St. Michel kam, sah er vor einem Fenster im Erdgeschoß ein Licht; er trat heran. Durch die zerbrochenen Scheiben blickte er in ein schmutziges Zimmer, das eine dunkle Erinnerung ihm erweckte. In diesem, nur matt durch eine Lampe erleuchteten Zimmer, saß ein blonder, frischer Jüngling mit heiterem Gesicht, der ein leicht bekleidetes Mädchen unter lautem Lachen umarmte; neben der Lampe saß ein altes Weib, das mit meckernder Stimme sang. Da der junge Mann nicht fortwährend lachte, so hörte der Priester bruchstückweise den Gesang der Alten.
    Wimmle, Grèveplatz, und lärme,
    Trag des Volkes dichte Schwärme,
    Während du, mein Rocken, schön
    Fäden spinnst, den Strick zu drehn;
    Wimmle, Grèveplatz, und lärme.
    Oh, von Hanf, ihr lieben Seile!
    Leute, streut auf manche Meile
    Statt des Korns des Hanfes Saat!
    Diebe wissen doch nicht Rat,
    Zu entwenden Galgenseile.
    Wimmle, Grèveplatz, gedrängt!
    Wird ein lieblich Kind, gehängt,
    Schön den schmier’gen Galgen schmücken,
    Sind die Fenster voll von Blicken;
    Wimmle, Grèveplatz, gedrängt!
    Der junge Mann lachte und liebkoste das Mädchen. Die Alte war die Falourdel, das Mädchen eine feile Dirne, der Jüngling Claudes Bruder Jehan.
    Er sah, wie Jehan ein Fenster hinten im Zimmer öffnete, einen Blick auf den Kai warf, wo tausend erleuchtete Fenster in der Ferne blinkten, es wieder zuschlug und sagte: „Bei meiner Seele! Die Nacht fängt an. Die Bürger zünden ihre Lichter und Gott seine Himmelslampen an.“ Dann kehrte er zu dem Freudenmädchen zurück, zerbrach eine auf dem Tisch stehende Flasche und rief aus: „Schon leer! Beim Teufel! Ich habe kein Geld mehr! Isabeau, meine Liebe, ich bin nicht eher mit Jupiter zufrieden, als bis er deine weißen Brüste in zwei schwarze Flaschen verwandelt hat, aus denen ich Tag und Nacht Beaune-Wein trinken kann.“
    Das Mädchen lachte über den schönen Scherz, und Jehan trat aus dem Hause. Der Archidiakonus hatte kaum Zeit, sich zu Boden zu werfen, um von seinem Bruder, der ihm gerade entgegentrat, nicht erkannt zu werden. Glücklicherweise war die Straße dunkel und der Student betrunken. Dieser bemerkte dennoch den Archidiakonus, wie er auf dem Pflaster lag. „Oh, oh!“ rief er aus, „der hat lustig gelebt!“ Dann stieß er Dom Claude, der den Atem anhielt, mit dem Fuß. „Gänzlich betrunken, regungslos“, meinte Jehan. „Ein Blutegel, der vom Faß gefallen ist. Er ist ein Kahlkopf, ein Greis. Fortunate senex!“
    Jetzt hörte Dom Claude, wie er sich mit den Worten entfernte: „Die Vernunft ist doch etwas sehr Schönes! Mein Bruder, der Archidiakonus ist doch sehr glücklich, Vernunft und Geld zu besitzen!“ Da stand der Archidiakonus auf und rannte auf Notre-Dame zu, deren ungeheure Türme er im Schatten über die Häuser emporragen sah. Als er keuchend auf den Vorplatz gelangte, fuhr er zurück und wagte nicht, die Augen zu dem unheilvollen Gebäude zu erheben.
    „Ach!“ sprach er leise, „so Furchtbares ist heute morgen hier wirklich vorgegangen?“
    Endlich wagte er, einen Blick auf die Kirche zu werfen. Die Fassade war düster; der Himmel strahlte hinter ihm von Sternen. Die Mondscheibe, die am Himmel daherzog, befand sich in dem Augenblick am Gipfel des Turmes rechts und schien wie ein leuchtender Vogel am Rande des mit schwarzen Kreuzen durchschnittenen Geländers zu sitzen.
    Das Tor des Klosters war verschlossen. Der Archidiakonus trug aber stets den Schlüssel des

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