Der Glöckner von Nôtre Dame - Hugo, V: Glöckner von Nôtre Dame
Flügeltüren des Haupttores knarrend gleichsam von selbst. Man sah in die tiefe, düstere, kaum durch einige Wachskerzen auf dem Hauptaltar erleuchtete Kirche, wie sie sich gleich einem finsteren Schlund auf den von Licht strahlenden Platz hin öffnete. Das Schiff war einsam. Nur in den fernen Stühlen des Chors sah man unbestimmt einige Priesterköpfe, und als das Haupttor sich erschloß, ertönte aus der Kirche ein lauter, ernster, eintöniger Gesang, der der Verurteilten Bruchstücke von Leichenpsalmen an das Haupt schleuderte.
Zugleich ertönte, vom Chor gesondert, an den Stufen des Hauptaltars eine andere düstere Stimme: „Qui verbum meum audit, et credit ei qui misit me, habet vitam aeternam et in judicium non venit, sed transit a morte in vitam.“ Dieser Gesang, den einige im Dunkel verschwindende Greise über dies schöne Geschöpf voll Jugend und Leben, wie die Frühlingslüfte mit ihm koseten, sangen, war die Totenmesse.
Das Volk lauschte andächtig.
Die Unglückliche, verstörten Sinnes, schien keine Vorstellung vom Innern der Kirche zu haben. Ihre bleichen Lippen regten sich wie zum Gebet, und als ein Henkersknecht auf sie zutrat, um ihr vom Karren hinabzuhelfen, hörte er, wie sie mit leiser Stimme sprach: „Phoebus!“ Man band ihr die Hände los und ließ sie vom Karren hinabsteigen mit der auch losgebundenen Ziege, die aus Freude über ihre Freiheit laut meckerte. Barfuß mußte Esmeralda dann auf dem harten Pflaster bis zu den Stufen gehen. Der Strick um ihren Hals schleppte hinter ihr her und glich einer ihr folgenden Schlange. Da hörte der Gesang in der Kirche auf. Ein großes goldenes Kreuz und eine Reihe Wachskerzen setzten sich im Dunkel in Bewegung. Man hörte die Hellebarden der buntgekleideten Türsteher schallen, und nach einigen Augenblicken zeigte sich eine Prozession von Priestern in Meßgewändern und von Diakonen in Dalmatiken, die mit ernsten Psalmen auf die Verurteilte zuging, den Blicken der Menge. Esmeraldas Blick aber weilte nur auf dem, der voranging, unmittelbar hinter dem Kreuzträger. „Ach“, sprach sie bebend, „der Priester ist es wieder!“
Der Archidiakonus war es wirklich. Rechts von ihm ging der Untersänger und links der Sänger mit dem Stabe seines Amtes. Er trat vor mit rücklings gebogenem Haupt, mit starren, offenen Augen, und sang:
„De ventre inferi clamavi et exaudisti vocem meam. Et projecisti me in profundum in corde maris, et flumen circumdedit me.“
Im Augenblick, wo er, in einen weiten Mantel mit silbernem Kreuz gewickelt, unter dem Portal hervortrat, war er so blaß, daß mancher unter den Zuschauern dachte, eine der marmornen Bildsäulen der im Chore auf Gräbern knienden Bischöfe sei erstanden und empfange auf der Schwelle des Grabes die zum Tode Bestimmte. Sie, nicht weniger blaß und starr, hatte kaum bemerkt, daß man ihr eine schwere, brennende Wachskerze in die Hand gab; sie hörte nicht die kreischende Stimme des Schreibers, der die Bußformel vorlas, und als man ihr sagte, sie müsse Amen sagen, sprach sie Amen. Um ihr einiges Leben und einige Kraft wiederzugeben, mußte der Priester ihr ein Zeichen geben, sich zu nähern, und ihren Wächtern, sich zu entfernen. Da fühlte sie, wie das Blut ihr zu Kopfe stieg, und ein letzter Zorn entzündete sich in dieser schon kalten und erstarrten Seele.
Langsam ging der Archidiakonus auf sie zu. Auch noch in diesem letzten Augenblick schaute sie, wie sein Auge, funkelnd von Lüsternheit, Eifersucht und Verlangen, auf ihren nackten Formen weilte. Dann sprach er laut: „Mädchen, hast du zu Gott gebetet, dir deine Sünden und Fehler zu verzeihen?“ – Er neigte sich zu ihrem Ohr (die Zuschauer meinten, er wolle ihre letzte Beichte hören): „Willst du mein sein? Noch kann ich dich retten.“
Sie sah ihn mit starrem Blick an. – „Geh, Teufel, oder ich klage dich an.“ – Er lächelte furchtbar: „Man wird dir nicht glauben, du wirst nur Ärgernis zum Verbrechen hinzufügen: Antworte schnell! Willst du mein sein?“ – „Wo ist mein Phoebus?“ – „Tot.“
In diesem Augenblick erhob der elende Archidiakonus mechanisch sein Haupt, und sah auf dem Balkon des Hauses Gondelaurier den Hauptmann neben Fleur-de-Lys stehen. Er wankte, fuhr mit der Hand über die Augen, sah noch einmal hin, murmelte eine Verwünschung, und alle seine Züge zogen sich heftig zusammen.
„Gut; du sollst sterben! Niemand soll dich haben“, murmelte er zwischen den Zähnen. Dann erhob er die Hand und rief
Weitere Kostenlose Bücher