Der Glöckner von Nôtre Dame - Hugo, V: Glöckner von Nôtre Dame
sie bewaffnet?“ – „Mit Sicheln, Piken, Hakenbüchsen, Schaufeln, allen Arten gewaltiger Waffen.“
Der König schien sich nicht im geringsten über alle diese Berichte zu beunruhigen. Gevatter Jacques glaubte hinzufügen zu müssen: „Wenn Eure Majestät dem Bailli nicht schnelle Hilfe sendet, ist er verloren.“
„Ich will ihm Hilfe senden“, sprach der König mit verstelltem Ernst. „Sehr gut! Oh gewiß werden Wir ihm Hilfe senden. Der Herr Bailli ist Unser Freund. Sechstausend entschlossene, kecke Schelme! Welche Frechheit! Ja, ja, Wir sind sehr zornig, haben aber heute nacht wenig Truppen in der Nähe. Morgen früh ist noch immer Zeit.“
Gevatter Jacques rief: „Sogleich, sogleich, Sire! Morgen früh kann das Palais zwanzigmal geplündert, das Herrenrecht geschändet, der Bailli gehängt sein. Bei Gott, Sire, schickt noch heute nacht.“
Der König sah ihm starr ins Gesicht. „Ich sagte Euch, morgen früh!“ Der Blick Ludwigs war von der Art, daß man darauf nicht zum zweitenmal erwiderte.
Nach einer Pause erhob der König wieder die Stimme: „Gevatter Jacques, Ihr müßt das wissen, wie weit erstreckt sich … erstreckt sich die Feudalgerichtsbarkeit des Bailli?“ – „Sire, der Bailli hat die Straße de la Calandre bis zur Herberie, den Platz St. Michel, die sogenannten kleinen Mauern neben der Kirche, den Hof der Wunder, das Krankenhaus, genannt das Weichbild, und die Straße, die von da nach dem Tore St. Jacques führt. Von allen diesen Orten ist er Lehnsherr und besitzt hohe, mittlere und niedere Gerichtsbarkeit.“ – „Ja, ja“, sagte der König und kratzte sich am linken Ohr, „das ist ein schöner Zipfel Unserer Stadt. Ha, der Herr Bailli war dort König!“ Dann fuhr er nachsinnend fort, als spräche er mit sich selbst: „Sehr schön, Herr Bailli! Ihr hieltet ein artiges Stück von Unserm Paris zwischen den Zähnen.“
Plötzlich brach er aus: „Gottes Ostern! Wer sind die Leute, die Gerichtsherrn und Gebieter in Unserm Reiche sich zu nennen erfrechen? Die ihren Zoll auf jedem Felde erheben? Die ihre Gerechtigkeit und ihren Henker auf jedem Kreuzwege haben? Wie der Grieche an so viele Götter glaubte, wie er Quellen schaute, der Perser, wie er Sterne sah, glaubt der Franzose an so viele Könige, wie er Galgen sieht. Bei Gott! Das taugt nichts und mißfällt Uns höchlichst. Ich möchte wissen, ob es durch Gottes Gnade einen anderen Gerichtsherrn als den König, ein anderes Gericht als Unser Parlament, einen andern Herrscher in Unserm Reiche als Uns gibt? Bei meiner Seele! Der Tag muß kommen, wo es in Frankreich nur einen Herrn, einen Richter, einen Henker gibt, wie es im Himmel nur einen Gott gibt.“
Er nahm seine Mütze ab und fuhr fort, stets nachsinnend, wie ein Jäger, der seine Meute hetzt und losläßt: „Bravo, mein Volk! Auf! Zerbrich die falschen Götzen! Auf! Auf! Plündere, packe, hänge sie! Ah, ihr Herren, ihr möchtet Könige sein. Auf, mein Volk!“
Hier aber brach er plötzlich ab, biß sich auf die Lippen, als wolle er seine entschlüpften Gedanken wieder einholen, richtete einen durchdringenden Blick auf die fünf Personen, nahm seinen Hut in die Hände, besah ihn und sagte: „Oh, ich würde dich verbrennen, wüßtest du, was in meinem Kopfe vorgeht.“
Dann warf er wieder um sich den aufmerksamen, unruhigen Blick des Fuchses, der vorsichtig in seine Höhle zurückkehrt. „Was tut’s? Dem Herrn Bailli eilen Wir zu Hilfe. Unglücklicherweise haben Wir gegen so viel Volk nur wenig Truppen bei der Hand und müssen bis morgen warten. Dann soll die Ruhe in der Altstadt wiederhergestellt und sollen alle Gefangenen gehängt werden.“
„Sire“, sprach Gevatter Coictier, „ich habe in der ersten Bestürzung vergessen, daß die Wache zwei Nachzügler von der Bande aufgegriffen hat. Will sie Eure Majestät sehen, so sind sie da.“
„Ob ich sie sehen will!“ rief der König. „Gottes Ostern! Wie kannst du so etwas vergessen! Olivier, laufe schnell hin, sie zu holen.“
Meister Olivier ging hinaus, kehrte aber sogleich mit zwei von Ordonnanzhäschern umringten Gefangenen zurück. Der eine hatte ein blödsinniges, breites Gesicht. Erstaunen und Trunkenheit lag in seinem Ausdruck. Er war in Lumpen gekleidet, beugte das Knie und schleppte den Fuß beim Gehen. Der andere war eine dem Leser schon bekannte, blase und lächelnde Gestalt.
Der König sah beide an, ohne ein Wort zu reden. Dann fuhr er plötzlich den ersteren an: „Dein Name?“ –
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