Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Glöckner von Nôtre Dame - Hugo, V: Glöckner von Nôtre Dame

Der Glöckner von Nôtre Dame - Hugo, V: Glöckner von Nôtre Dame

Titel: Der Glöckner von Nôtre Dame - Hugo, V: Glöckner von Nôtre Dame Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Victor Hugo , Pößneck GGP Media GmbH
Vom Netzwerk:
bärtigem Antlitz, der den Raum im Umkreise mit einem Stock untersuchte und, von einem großen Hunde bugsiert, mit ungarischem Akzent näselte: „Facitote caritatem.“*

    * Lateinisch: Gebt ein Almosen!
    „Gottlob!“ sagte Peter Gringoire, „endlich spricht einer eine christliche Sprache. Ich muß ein beträchtliches Almosen-Aussehen haben, da man in dem Zustande der Magerkeit von meiner Börse bei mir bettelt.“
    „Freund (wandte er sich zum Blinden), letzte Woche verkaufte ich mein letztes Hemd, das heißt, weil Ihr nur Ciceros Sprache versteht: Vendidi hebdomade nuper transita meam ultimam chemisam.“
    Mit den Worten wandte er dem Blinden den Rücken und ging seines Weges weiter. Doch jener begann zugleich mit ihm seine Schritte zu verlängern, und plötzlich liefen auch die beiden anderen Krüppel mit großer Eile und großem Lärm der Krücken hinter ihm her; alle drei tummelten sich hinter den Fersen des armen Gringoire, und jeder sang ihm sein Lied.
    „Caritatem!“ sang der Blinde. „La buona mancia“, sang der spinnegleiche Krüppel; der Lahme stieg noch eine Note höher und rief: „Un pedazo de pan!“ Gringoire verstopfte sich die Ohren: „Oh Turm von Babel!“ rief er aus. Er fing an zu laufen; der Blinde lief; der Krüppel lief; der Lahme lief.
    Je tiefer er in die Straßen drang, kamen Blinde, Krüppel, Lahme, Einäugige, Einarmige, Aussätzige aus den Häusern, Gassen, Kellern, heulend, brüllend, kreischend, sämtlich hinkend, in immer größeren Massen hervor, stürzten auf den Lichtschein zu und wälzten sich im Kote, wie Schnecken nach dem Regen. Gringoire, hinter dem seine drei Verfolger stets herliefen, konnte nicht begreifen, was daraus entstehen sollte, rannte erschreckt unter diese Masse, stieß die Hinkenden, sprang über die Kriechenden hinweg, verwickelte sich mit den Füßen in dem Ameisenhaufen von Krüppeln, wie einst jener englische Schiffskapitän in einer Herde von Krabben stecken blieb.
    Da fiel ihm ein, einen Versuch zur Rückkehr zu machen. Aber es war zu spät. Die ganze Schar hatte sich hinter ihm geschlossen, und seine drei Bettler folgten ihm auf dem Fuße. Er setzte deshalb seinen Lauf fort, von der unwiderstehlichen Flut, der Furcht und einem Schwindel hingerissen, der ihm alles zu einer Art furchtbaren Traumes machte. Endlich erreichte er das äußerste Ende der Straße; sie führte ihn auf einen ungeheuren Platz, wo tausend zerstreute Lichter im Nebel der Nacht flackerten. Gringoire stürzte auf ihn zu; denn er hoffte, sich durch die Schnelligkeit seiner Beine den drei krüppelhaften Gespenstern, die sich an ihn geklammert hatten, zu entziehen.
    „Onde vas, hombre!“* rief der Lahme, warf seine Krücken fort und rannte mit den zwei besten Beinen, die jemals auf dem Pariser Pflaster einen geometrischen Schritt zeichneten hinter ihm her. Der kriechende Krüppel stand aufrecht und legte seine schweren Krallen auf Gringoires Kopf, und der Blinde schaute ihm mit funkelnden Augen ins Gesicht. „Wo bin ich?“ fragte der erschrockene Dichter. „Im Hofe der Wunder“, erwiderte ein viertes Gespenst, das herantrat. „Bei meiner Seele“, begann Gringoire aufs neue, „ich erblicke wohl die Blinden, die sehen, und die Hinkenden, die laufen; wo aber ist der Heiland, der Erretter?“ Man antwortete ihm mit einem Unheil verkündenden Gelächter.

    * Spanisch: Wohin gehst du, Mensch?
    Der arme Dichter blickte um sich. Er war wirklich in dem furchtbaren Hofe der Wunder, wohin zu solcher Stunde ein ehrlicher Mann noch nie gedrungen war; er befand sich in dem Zauberkreise, in dem die Offiziere des Châtelet und die Sergeanten der Prévoté, die sich hineinwagten, wie Krümchen verschwanden; in der Stadt der Diebe, der scheußlichen Warze des Antlitzes der Stadt Paris; in der Kloake, von wo ein Strom von Lastern, Bettlern und Vagabunden, der sich stets in der Hauptstadt befand, jeden Morgen sich über Paris ergoß, und dann des Nachts dort wieder zusammenkauerte; in dem ungeheuren Bienenkorbe, wohin alle Hornissen der Gesellschaft des Abends mit ihrem Raube heimkehrten; in dem erlogenen Hospitale, worin die Zigeuner, der entlaufene Mönch, der ruinierte Student, die Taugenichtse aller Nationen, Italiener, Spanier, Deutsche, die Taugenichtse aller Religionen, Juden, Christen, Mohammedaner, Götzendiener, am Tage mit geschminkten Geschwüren bedeckt und bettelnd, sich des Nachts in Räuber verwandelten; kurz, Gringoire war in den ungeheuern Kleiderbehälter geraten, in dem

Weitere Kostenlose Bücher