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Der Glöckner von Nôtre Dame - Hugo, V: Glöckner von Nôtre Dame

Der Glöckner von Nôtre Dame - Hugo, V: Glöckner von Nôtre Dame

Titel: Der Glöckner von Nôtre Dame - Hugo, V: Glöckner von Nôtre Dame Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Victor Hugo , Pößneck GGP Media GmbH
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sich damals alle Schauspieler des ewigen Dramas ankleideten und wieder auszogen, das Entbehrung, Raub und Mord auf dem Pflaster von Paris noch immer spielen.
    Es war ein weiter, unregelmäßiger und schlecht gepflasterter Platz, wie dies damals bei allen Plätzen in Paris der Fall war. Hin und wieder glänzten Feuer, die sonderbare Gruppen wimmelnd umringten. Es war ein immerwährendes Geschrei, ein immerwährendes Gehen und Kommen. Man vernahm scharftönendes Lachen, Kindergeschrei, Weiberstimmen; Hände und Köpfe der Menge schnitten schwarz auf dem hellen Grunde tausend sonderbare Gestalten aus. In einzelnen Augenblicken, wenn der Schein des Feuers, mit großen undeutlichen Schatten gemischt, auf dem Boden zitterte, konnte man einen Hund, der einem Menschen glich, vorübergehen sehen. Alle Unterschiede der Gattungen und Geschlechter schienen in dieser Stadt, wie in einem Pandämonium, zu erlöschen. Männer, Weiber, Tiere, Alter, Gesundheit, Krankheit, alles schien unter diesem Volke gemeinschaftlich zu sein; alles war untereinander gemischt und verwirrt; jeder nahm an allem teil.
    An dem zitternden und ärmlichen Lichte der Feuer konnte Gringoire in seiner Verwirrung rings um den breiten Platz eine scheußliche Einfassung von alten Häusern erkennen, deren wurmstichtige, zusammengeschrumpfte, verkrüppelte Vorderseiten, von denen jede von einer oder zwei erleuchteten Luken durchbrochen war, ihm wie ungeheure Köpfe alter Weiber erschienen, die mit blinzelnden Augen, scheußlich und sauertöpfisch, den Lärm im Kreise betrachteten.
    Es war ihm eine neue, kriechende, wimmelnde, monströse, unerhörte, entstellte, phantastische Welt.
    Von den drei Bettlern wie von drei Zangen gefaßt, betäubt durch Blöken und Bellen der Gesichter in der Runde, suchte der unglückliche Gringoire alle Geistesgegenwart zusammenzunehmen, um sich zu erinnern, ob man vielleicht an einem Sonnabend wäre. Allein alle Bemühungen waren vergeblich; der Faden seiner Gedanken, wie der seines Gedächtnisses, war zerrissen; er zweifelte an allem, wußte nicht mehr, was er fühlte, und stellte sich die unlösbare Frage: Wenn ich bin, ist dies Wirklichkeit? – Wenn dies Wirklichkeit ist, bin ich?
    Da erhob sich eine deutliche Stimme aus dem summenden Gedränge, das ihn umringte: „Führen wir ihn zum König!“
    „Heilige Jungfrau“, murmelte Gringoire, „der König ist gewiß ein Ziegenbock!“
    „Zum König! Zum König!“ wiederholten alle Stimmen. Man schleppte ihn fort. Jeder wollte ihn anpacken; aber die drei Bettler ließen ihren Fang nicht los. „Er ist unser!“ schrien sie und entrissen ihn den andern. Das schon schadhafte Wams des Dichters ging in diesem Kampfe vollends zugrunde.
    Als er den furchtbaren Platz durchschritt, verlor sich sein Schwindel. Das Gefühl der Wirklichkeit brach sich bei ihm Bahn, traf seinen Blick, stieß an seine Beine und riß allmählich die furchtbare Poesie, womit er sich anfangs umgeben wähnte, ein. Er mußte endlich wohl sehen, daß er nicht im Styx, sondern im Kote wandelte, daß ihn keine Teufel, sondern Diebe mit den Ellbogen stießen, daß seine Seele auf keine Weise, sondern nur sein Leben in Gefahr schwebte (es fehlte ihm ja jener kostbare Vermittler, der zwischen dem Banditen und dem ehrlichen Mann die Ansprüche ausgleicht: die Börse). Kurz, als er die Orgie näher untersuchte, verfiel er vom Sabbat in die Schenke.
    Das Schauspiel, das sich seinen Augen darbot, als seine zerlumpte Wache ihn endlich am Ziele seiner Bahn niederlegte, war durchaus nicht geeignet, ihn zur Poesie zurückzuführen, wäre es auch nur die Poesie der Hölle gewesen. Es war mehr als die brutale und rohe Wirklichkeit einer Schenke. Rings um ein großes Feuer, das auf einer großen runden Steintafel brannte und dessen Flammen die rötlichen Füße eines für den Augenblick leeren Dreifußes bedeckten, waren hin und wieder wurmstichige Tische aufgestellt. Auf den Tischen strahlten einige rinnende Bier- und Weinkrüge, und um diese Krüge gruppierten sich gar viel bacchische Gesichter, von Feuer und Wein in Purpur gefärbt. Ein Mann mit geschwollenem Bauch und munterer Gestalt umarmte brünstig ein dickes und fleischiges Freudenmädchen. Es war ein Art von durchtriebenem Schelm, der pfeifend den Verband von seiner falschen Wunde nahm und seinem gesunden und starken Knie, das er seit dem Morgen in tausend Binden gewickelt hatte, die frühere Gelenkigkeit zurückgab. Zwei Tische weiter buchstabierte ein Pilger, mit altem

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