Der Glöckner von Nôtre Dame - Hugo, V: Glöckner von Nôtre Dame
wagten nicht mehr hinzublicken, aber vernahmen tausend Küsse und Seufzer, gemischt mit herzzerreißenden Schreien und dem dumpfen Schall eines Hauptes, das gegen die Mauer stößt; endlich vernahmen sie einen so lauten Stoß, daß sie alle drei wankten, und es folgte eine tiefe Stille.
„Ach! Hat sie sich getötet?“ sprach Gervaise und wagte es, den Kopf durch das Gitter zu stecken. „Schwester Gudule! Schwester Gudule!“ rief Dudarde. – „Oh Gott“, sprach Gervaise, „sie rührt sich nicht! Sie scheint tot! Gudule! Gudule!“
Mahiette konnte vor Schluchzen nicht reden. Sie raffte sich zusammen und sagte: „Wartet.“ Dann legte sie sich an das Gitter und rief: „Paquette! Paquette Chantefleurie!“
Ein Kind, welches ohne Arg die nicht genug angezündete Lunte einer Petarde anbläst, bis diese plötzlich dicht vor seinen Augen losbricht, kann nicht heftiger erschrecken als Mahiette bei der Wirkung des plötzlich in die Zelle gerufenen Namens.
Die Klausnerin zitterte, erhob sich auf die nackten Füße und sprang mit so heftig flammenden Augen an die Luke, daß alle drei Frauen mit dem Kinde bis an die Brüstung des Kais zurückfuhren. Die unheilvolle Gestalt der Klausnerin schien aber an das Gitter geheftet. „Oh!“ rief sie mit schaudervollem Gelächter, „die Zigeunerin ruft mich.“ Ihr starres Auge erblickte eine Szene am Schandpfahl. Ihre Stirn zog sich in Runzeln, sie streckte ihre Skelettarme durch das Gitter und schrie mit einer Stimme, die dem Stöhnen glich: „Du also rufst mich, Tochter Ägyptens? Diebin der Kinder! Sei verflucht, verflucht, verflucht!“
23. Eine Träne für einen Tropfen Wasser
Diese Worte wurden der Vereinigungspunkt zwischen zwei Szenen, die sich bis dahin in demselben Augenblick parallel, jede auf ihrem besonderen Schauplatz, entwickelt hatten; die eine am Rattenloch, wie wir es eben beschrieben, die andere am Schandpfahl. Zeugen der ersteren waren nur die drei Frauen, deren Bekanntschaft der Leser soeben gemacht hat; für die zweite hatte sich, wie wir gesehen haben, ein Publikum von Zuschauern um den Schandpfahl und den Galgen des Grèveplatzes versammelt.
Dies Volk, an das Warten bei öffentlichen Strafvollstreckungen schon gewöhnt, äußerte keine große Ungeduld. Es vertrieb sich die Zeit mit Beschauen des Schandpfahls, eines sehr einfachen Bauwerks, das nur aus einem gemauerten, inwendig hohlen Würfel von zehn Fuß Höhe bestand. Eine steile, steinerne Treppe führte zur oberen Fläche, worauf man ein liegendes Rad von Eichenholz erblickte. Die armen Sünder band man, die Hände auf dem Rücken und auf den Knien liegend, an dies Rad. Ein Stiel, der eine Winde im Innern des Rades in Bewegung setzte, brachte dieses zum Drehen in horizontaler Richtung, so daß das Gesicht des Verurteilten allmählich nach allen Seiten des Platzes hin gezeigt wurde.
Endlich erschien der arme Sünder, gebunden auf einem Karren. Als man ihn auf die Platte gehoben hatte, so daß man ihn von allen Seiten her sehen konnte, als man ihn darauf mit Stricken auf das Rad band, entstand ein scharfes, mit Lachen und Zuruf untermischtes Gezisch. Man hatte Quasimodo erkannt. Er war es wirklich, und seine Wiedererscheinung war sonderbar. Auf demselben Platze, wo man ihn gestern mit lautem Zuruf begrüßt hatte, sollte er an den Schandpfahl gestellt werden. Bald gebot Michel Noiret, geschworener Trompeter des Königs, den Zuschauern Schweigen und las nach Befehl und Anordnung des Herrn Prévot das Urteil vor. Dann ging er wieder hinter den Karren mit seinen Leuten zurück.
Quasimodo schien ganz unempfindlich und runzelte nicht einmal die Stirn. Wegen der Heftigkeit und Festigkeit der Bande war jeder Widerstand unmöglich geworden, d. h., Riemen und Kettchen drangen ihm bis ins Fleisch. Er hatte sich treiben, stoßen, knebeln lassen. Auf seinem Antlitz konnte man nur das Erstaunen eines Wilden oder Blödsinnigen erkennen. Man wußte, daß er taub war; jetzt konnte man ihn auch für blind halten. Man warf ihn kniend auf das runde Brett; er ließ es geschehen; man zog ihm Hemd und Wams bis zum Gürtel aus; er ließ es geschehen; man band ihn aufs neue mit Riemen; er ließ sich ruhig knebeln. Nur bisweilen keuchte er laut wie ein Kalb, dessen Kopf vom Wagen des Schlächters herabhängt.
„Der Esel“, sprach Jehan Frollo du Moulin zu Robin Poussepain, seinem Freunde (beide Studenten waren, als verstehe sich das von selbst, dem armen Sünder gefolgt); „er merkt von alledem gar nichts, wie
Weitere Kostenlose Bücher