Der Glöckner von Nôtre Dame - Hugo, V: Glöckner von Nôtre Dame
zweifelte nicht, daß die Zigeuner das Kind mit Belzebub gefressen hatten, wie dies bei den Mohammedanern Sitte ist. Als Chantefleurie diese furchtbaren Dinge hörte, weinte sie nicht und bewegte die Lippen, als wolle sie sprechen, aber sie konnte es nicht. Am nächsten Tage waren ihre Haare grau, und am zweiten Tage war sie verschwunden.“
„Das ist wirklich eine furchtbare Geschichte“, sprach Dudarde, „die selbst einen Burgunder zu Tränen rühren müßte.“ – „Jetzt wundere ich mich nicht mehr, daß die Furcht vor Zigeunern Euch so jagen kann.“ – „Ihr tatet um so besser“, sagte Dudarde, „Euch mit Eurem Eustache soeben zu retten, da auch diese Zigeuner, wie man sagt, aus Polonien sind.“ – „Nein“, verbesserte Gervaise, „es heißt, sie kämen aus Spanien und Katalonien.“ – „Katalonien vielleicht“, sagte Dudarde, „Polonien, Katalonien, Wallonien, die drei Provinzen verwechsele ich immer, aber es ist gewiß, daß es Zigeuner sind.“ – „Und gewiß“, fügte Gervaise hinzu, „sind ihre Zähne groß genug, kleine Kinder zu fressen. Es sollte mich nicht wundern, wenn die Esmeralda auch Kinder fräße, obgleich ihr Mund so klein ist. Ihre weiße Ziege macht zu boshafte Streiche, als daß keine Teufelei dahinter stecken sollte.“
Mahiette ging indes schweigend weiter. Sie war in die Träumerei versunken, welche die Verlängerung einer schmerzlichen Erzählung zu sein pflegt, und die nur dann aufhört, wenn sie bis zur letzten Fiber des Herzens vibriert hat. Gervaise übrigens fragte: „Weiß man, was aus der Chantefleurie geworden ist?“
Mahiette erwiderte nichts. Gervaise wiederholte die Frage, sie beim Arme schüttelnd und bei Namen rufend. Mahiette schien aus ihrer Träumerei zu erwachen.
„Was aus Chantefleurie geworden ist?“ sprach sie, mechanisch die Worte wiederholend, deren Eindruck soeben ihr Ohr getroffen hatte. Dann überdachte sie mit Gewalt den Sinn der Worte, und sprach lebhaft: „Das hat man nie erfahren.“
Darauf fügte sie nach einer Pause hinzu:
„Die einen sagen, man hätte sie aus dem Tore Porte-Fléchembault mit der Abenddämmerung, andere, mit der Morgenröte aus der Porte-Basée gehen sehen. Ein Armer fand ihr goldenes Kreuz auf dem Felde an einem steinernen Kreuz. Wir alle dachten, als wir das Kreuz weggeworfen sahen, sie habe sich ertränkt.“
„Arme Chantefleurie“, sagte Dudarde bebend. – „Und der kleine Schuh?“ fragte Gervaise. – „Verschwand mit der Mutter.“ – „Armer kleiner Schuh!“
„Und der Wechselbalg?“ fragte Dudarde. – „Welcher Wechselbalg?“ – „Der kleine Zigeuner-Wechselbalg, den die Hexen bei der Chantefleurie zurückließen. Was hat man mit dem angefangen? Ich hoffe, daß Ihr ihn auch ertränkt habt.“ – „Nein.“ – „Vielleicht verbrannt? Das ist gerechter! Ein Hexenkind!“ – „Auch das nicht. Der Herr Erzbischof nahm Interesse an dem Zigeunerkinde, trieb ihm sorgfältig den Teufel aus dem Leibe, segnete es und schickte es nach Paris, wo er es auf der Bank der Findelkinder aussetzen ließ.“
So sprechend waren die drei würdigen Bürgerfrauen auf den Grèveplatz gekommen. In ihr Gespräch vertieft, waren sie mechanisch bei dem öffentlichen Breviarium vorübergegangen und gingen auf den Schandpfahl zu, wo das Gedränge immer stärker wurde. Wahrscheinlich hätten sie bei dem Schauspiel, das gerade jetzt alle Blicke auf sich zog, das Rattenloch vollkommen vergessen und auch, daß sie dort stehen bleiben wollten, wenn der sechsjährige dicke Junge sie nicht plötzlich daran erinnert hätte. „Mutter“, sagte er, als mahne ihn sein Instinkt, das Rattenloch liege hinter ihm, „darf ich jetzt den Kuchen essen?“
Diese unbesonnene Frage erweckte wieder das Gedächtnis der Mahiette.
„Wir vergessen ja“, rief sie aus, „die Klausnerin. Zeigt mir doch euer Rattenloch, daß ich den Kuchen dort hinlege.“ – „Sogleich“, sprach Dudarde, „das ist ja eine fromme Handlung.“
Aber hiervon wollte Eustache nichts wissen. „Hier, mein Kuchen?“ rief er, indem er beide Schultern hob und die Ohren spitzte, was in solchem Fall die höchste Unzufriedenheit bedeutet.
Die drei Frauen kehrten wieder um, und als sie am Hause Tour-Roland standen, sprach Dudarde zu den andern: „Wir dürfen nicht alle drei auf einmal in die Luke sehen, sonst wird die Büßerin böse. Tut ihr beiden, als sprächt ihr das Dominus im Breviarium, während ich die Nase in die Luke stecke. Die Büßerin
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