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Der Glöckner von Nôtre Dame - Hugo, V: Glöckner von Nôtre Dame

Der Glöckner von Nôtre Dame - Hugo, V: Glöckner von Nôtre Dame

Titel: Der Glöckner von Nôtre Dame - Hugo, V: Glöckner von Nôtre Dame Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Victor Hugo , Pößneck GGP Media GmbH
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Hände blieben gefaltet, ihre Lippen stumm, ihr Auge starr, und der kleine so betrachtete Schuh rührte tief das Herz eines jeden, der ihre Geschichte kannte. Die drei Frauen hatten noch kein Wort gesprochen; sie wagten nicht einmal mit leiser Stimme zu reden. Das tiefe Schweigen, der tiefe Schmerz, die vollkommene Vergessenheit alles Äußern, nur nicht eines einzigen Dinges, brachte bei ihnen den Eindruck eines Hochaltars um Ostern oder Weihnachten hervor. Sie waren bereit, auf die Knie zu sinken, und es war ihnen, als träten sie in die Kirche am Tage Tenebrae.
    Gervaise endlich, die neugierigste der drei und folglich die weniger gefühlvolle, suchte die Klausnerin zum Reden zu bringen: „Schwester, Schwester Gudule!“ Dreimal wiederholte sie den Ruf mit immer lauterer Stimme. Die Klausnerin aber rührte sich nicht: Kein Wort, kein Blick, kein Seufzer gab ein Lebenszeichen. Dudarde begann dann mit sanfterer Stimme: „Schwester, Schwester Gudule!“ Die Klausnerin blieb stumm und unbeweglich.
    „Sonderbare Frau“, sprach Gervaise, „eine Kanone weckt sie nicht auf.“ – „Vielleicht ist sie taub“, sprach Dudarde seufzend. – „Und blind“, fügte Gervaise hinzu. – „Vielleicht ist sie tot“, sagte Mahiette.
    Hatte auch die Seele den trägen, schläfrigen Körper noch nicht verlassen, so war sie doch in den Tiefen verborgen, wohin die Wahrnehmungen der äußern Sinne nicht gelangen.
    „Wir müssen“, sprach Dudarde, „den Kuchen an der Luke liegen lassen. Aber da wird ihn ein Junge wegnehmen. Wie können wir sie aufwecken?“
    Eustache, dessen Aufmerksamkeit bis dahin durch einen kleinen, von einem großen Hunde gezogenen Wagen in Anspruch genommen wurde, sah plötzlich, daß seine drei Führerinnen in die Luke schauten. Da ward auch er neugierig, stieg auf einen Markstein, stellte sich auf die Fußspitzen, hielt sein breites, rosenrotes Gesicht an die Luke und rief: „Mutter, ich will auch sehen!“
    „Guten Tag, Frau!“ sprach das Kind mit Würde.
    Die Erschütterung hatte die Klausnerin aufgestachelt. Ihre Glieder zitterten von Kopf bis zu Füßen, ihre Zähne klapperten, sie hob halb ihr Haupt, drückte die Ellenbogen gegen die Hüften, nahm die Füße in die Hand, als wollte sie sie wärmen und sprach: „Oh, die große Kälte!“
    „Arme Frau“, sagte Dudarde voll Mitleid, „wollt Ihr ein wenig Feuer?“ – Sie schüttelte den Kopf. Dudarde reichte ihr ein Fläschchen mit den Worten: „Hier ist Muskateller, Euch zu wärmen. Trinkt!“ – Sie schüttelte aufs neue mit dem Kopfe, betrachtete Dudarde mit festem Blick und erwiderte: „Wasser.“
    Dudarde blieb bei ihrem Anerbieten. „Nein, Schwester, das ist kein Trunk im Januar. Ihr müßt ein wenig Muskateller trinken und diesen Kuchen, den wir für Euch zugerichtet haben, essen.“
    Sie wies den Kuchen, den Mahiette ihr reichte, zurück, und sprach: „Schwarzes Brot!“
    „Kommt“, sprach Gervaise, die jetzt auch mitleidig ward und ihren wollenen Überrock von den Schultern nahm, „dieser Überrock ist wärmer als der Eure, legt ihn Euch auf die Schultern.“
    Sie wies den Überrock zurück und sprach: „Einen Sack!“
    „Ihr müßt doch merken, daß gestern ein Festtag war“, sprach die gutmütige Dudarde. – „Ich merke es schon“, war die Antwort; „zwei Tage war kein Wasser in meinem Krug.“ Dann fügte sie nach einer Pause hinzu: „An Festtagen vergißt man mich. Ganz recht! Warum sollte die Welt meiner gedenken, da ich die Welt vergaß. Kalte Asche gehört zu erloschener Kohle.“
    Und als wäre sie ermüdet, so viel gesprochen zu haben, ließ sie das Haupt wieder auf die Brust sinken. Die einfache, mitleidige Dudarde glaubte, in den letzten Worten klage sie über Kälte und erwiderte naiv: „Wollt Ihr denn etwas Feuer haben?“ – „Feuer!“ sprach die Büßerin mit sonderbarem Ton; „wollt Ihr auch der armen Kleinen etwas Feuer geben, die schon fünfzehn Jahre unter der kalten Erde liegt?“
    Ihre Glieder zitterten; ihre Stimme bebte, ihre Augen glänzten und sie erhob sich auf die Knie; dann streckte sie plötzlich ihre mageren, weißen Hände zu dem Kinde, das sie erstaunlich anblickte. „Bringt es fort“, rief sie aus, „die Zigeunerin kommt.“
    Darauf fiel sie mit dem Gesicht auf die Erde, und ihre Stirn fuhr auf die Steinplatte, wie ein Stein auf den andern. Dann stand sie auf, und die drei Frauen sahen, wie sie mit den Knien und Ellbogen in den Winkel rutschte, wo der kleine Schuh stand. Sie

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