Der Glöckner von Nôtre Dame - Hugo, V: Glöckner von Nôtre Dame
Gesicht, hochrot, triefte von Schweiß; sein Auge blickte wirr, sein Mund schäumte aus Zorn und Schmerz, seine Zunge hing ihm halb aus dem Halse. Auch müssen wir noch hinzufügen, daß, selbst wenn unter den Zuschauern ein mitleidiges Herz sich gefunden hätte, bereit, dem Unglücklichen ein Glas Wasser zu bringen, ein solches Vorurteil der Schande und Schmach die Stufen des Schandpfahls umgab, daß selbst der barmherzige Samariter zurückgeschrocken wäre.
Nach einigen Minuten ließ Quasimodo über die Menge den Blick der Verzweiflung schweifen, und wiederholte mit noch herzzerreißenderer Stimme den Ruf nach Wasser. Alle begannen zu lachen. „Trink dies!“ schrie Robin Poussepain, indem er ihm einen Schwamm ins Gesicht warf, den er durch den Rinnstein gezogen hatte. „Tauber Wechselbalg, ich bin dein Schuldner.“ Eine Frau warf ihm einen Stein an den Kopf mit den Worten: „Das lehrt dich, uns des Nachts mit deinem verdammten Geläut zu wecken.“
„Sohn des Teufels“, rief ein Krüppel, indem er sich bemühte, ihn mit seiner Krücke zu erreichen, „willst du uns noch von deinem Turme her behexen?“ – „Hier ist ein Napf zum Trinken“, rief ein anderer, indem er ihm einen zerbrochenen Napf auf die Brust warf; „du bist schuld, daß meine Frau mit einem zweiköpfigen Kinde niederkam.“ – „Und daß meine Katze ein Kätzchen mit sechs Pfoten warf“, schrie ein altes Weib und warf ihn mit einem Dachziegel.
„Wasser!“ rief Quasimodo zum drittenmal keuchend.
In dem Augenblick machte die Menge Platz. Ein junges sonderbar gekleidetes Mädchen trat heraus, begleitet von einer Ziege mit vergoldeten Hörnern. Sie hielt ein baskisches Tamburin in der Hand. Quasimodos Auge funkelte. Es war dieselbe Zigeunerin, die er in der vorhergehenden Nacht hatte entführen wollen, und er fühlte undeutlich, daß er eben wegen dieses Streiches jetzt bestraft wurde; übrigens war dies noch der geringste Grund seiner Züchtigung; denn zugleich mußte er Strafe wegen des Unglücks leiden, als Tauber von einem Schwerhörigen verhört zu werden. Er zweifelte nicht, sie wollte sich auch rächen und ihm, wie die andern, auch einen Fußtritt geben. Schweigend ging sie auf Quasimodo zu, der sich vergeblich krümmte, ihr zu entgehen. Sie nahm ihre Kürbisflasche aus ihrem Gürtel und hielt sie an die brennenden Lippen des Unglücklichen. Da sah man, wie aus dem brennenden, trockenen Auge eine dicke Träne hinabrollte und langsam das von Verzweiflung so entstellte Antlitz hinunterfloß. Es war vielleicht die erste, die der Unglückliche jemals vergossen hatte. Dennoch vergaß er zu trinken. Die Zigeunerin schnitt ungeduldig ihr kleines Mäulchen und hielt lächelnd den Hals der Flasche an die Zähne Quasimodos. Er trank in langen Zügen; sein Durst war glühend.
Als er getrunken hatte, streckte der Unglückliche seine schwarzen Lippen aus, wahrscheinlich die schöne Hand zu küssen, die ihn in seiner Trübsal geholfen hatte. Allein das junge Mädchen schien, sich vielleicht an die gestrige Nacht erinnernd, mißtrauisch zu sein und zog ihre Hand, erschrocken wie ein Kind, das von einem Tier gebissen zu werden fürchtet, zurück. Da heftete der Arme einen Blick voll unaussprechlichen Schmerzes und voll Vorwurfs auf das Mädchen. Überall hätte es jegliches Herz gerührt, als ein so schönes, frisches, reines, liebliches und schwaches Mädchen voll Erbarmen solchem Unglück, solcher Mißgestalt und Bosheit zu Hilfe eilte. Beim Schandpfahl war es erhaben. Auch ward das Volk betroffen, klatschte in die Hände und erhob ein Beifallgeschrei. In diesem Augenblick sah die Klausnerin die Zigeunerin aus der Luke ihres Lochs und warf ihr den unheilvoll tönenden Ausruf zu: „Tochter Ägyptens, sei verflucht, verflucht, verflucht!“
Esmeralda erblaßte und stieg die Stufen des Schandpfahles hinab. Die Stimme der Klausnerin verfolgte sie aber mit dem Rufe: „Steige nur hinab, Räuberin Ägyptens, bald wirst du wieder hinaufsteigen.“
„Die Klausnerin hat ihre verrückten Einfälle“, murmelte das Volk, aber dabei blieb es; denn jene Frauen wurden gefürchtet, weil sie gewissermaßen geheiligt waren. Damals griff man diejenigen nicht gern an, welche Tag und Nacht beteten.
Die Stunde war gekommen, Quasimodo fortzuführen. Man band ihn los, und die Menge zerstreute sich.
Bei der Hauptbrücke blieb Mahiette, die mit ihren Gefährtinnen auch nach Hause ging, plötzlich stehen. „Eustache“, sprach sie, „was hast du mit dem
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