Der Glöckner von Nôtre Dame - Hugo, V: Glöckner von Nôtre Dame
wäre mager geworden, hätte dies noch geschehen können. Er vergaß alles, sogar seine literarischen Liebhabereien, sogar sein großes Werk De figuris regularibus et irregularibus, das er, sobald er Geld hatte, drucken lassen wollte. Eines Tages, als er traurig vor der Tournelle vorüberging, bemerkte er ein Gedränge am Tor des Palais de Justice. „Was gibt’s?“ fragte er einen jungen Mann, der heraustrat.
„Ich weiß nicht, Herr“, erwiderte dieser, „es wird dort eine Frau gerichtet, die einen Offizier ermordet hat. Wie es scheint, ist Hexerei dabei im Spiel; der Bischof und der Offizial sind eingeschritten, und mein Bruder, der Archidiakonus, ist ewig dort. Ich möchte ihn sprechen, kann aber wegen des Gedränges nicht zu ihm kommen. Das ist mir sehr unangenehm; denn ich brauche Geld.“
„Ach, Herr“, sprach Gringoire, „ich möchte Euch gern leihen, aber wenn meine Hosentaschen durchlöchert sind, so ist das nicht die Schuld von Talern.“ Er wagte es nicht, dem jungen Mann zu sagen, daß er seinen Bruder kenne, bei dem er seit ihrem Zusammentreffen in der Kirche nicht mehr gewesen war; hierüber war er nämlich ein wenig beschämt. Der Student ging seines Weges, und Gringoire begann, dem Gedränge zu folgen, das die Haupttreppe hinanwogte. Er dachte, nichts sei so sehr geeignet, Trübsinn zu verscheuchen als ein Kriminalprozeß; denn die Dichter zeigen gewöhnlich eine aufheiternde Dummheit. Das Volk, mit dem er fortschritt, ging und stieß sich schweigend mit dem Ellenbogen. Nach einem langen und langweiligen Zappeln auf der dunklen Wendeltreppe, die sich durch das alte Gebäude wie ein Verdauungskanal hinzog, gelangte er durch eine niedrige Tür in einen Saal, den über allen wogenden Häuptern zu durchforschen sein hoher Wuchs ihm erlaubte. Der Saal war breit und sehr düster, so daß er noch größer erschien. Der Tag ging zu Ende; die langen gotischen Fenster ließen nur einen schwachen Lichtstrahl hineindringen, der, bevor er das Gewölbe erreicht hatte, erlosch; dieses war mit Schnitzwerk verziert, dessen tausend Gestalten sich im Schatten zu bewegen schienen. Mehrere Lichter brannten hier und da auf den Tischen und beleuchteten die Köpfe der über Papierstöße sich neigenden Schreiber. Der vordere Teil des Saales war von Zuschauern erfüllt; links und rechts saßen Männer in schwarzen Talaren an Tischen; im Hintergrunde saßen zahlreiche Richter, deren letzte Bänke im Dunkel sich verloren; unbewegliche, unheilvolle Gesichter. „Herr“, frage Gringoire einen seiner Nachbarn, „was wollen alle die Personen, die wie Prälaten im Konzil sitzen?“ – „Herr“, sagte der Nachbar, „rechts sind Räte, die Herrn in schwarzen und die Herren in roten Roben.“ – „Wer ist denn der dicke Rote, der so schwitzt?“ – „Das ist der Herr Präsident.“ – „Und die Ungeheuer hinter ihm?“ (Wie wir schon wissen, konnte Gringoire den Richterstand nicht leiden. Vielleicht stammte dieser Groll von seinem dramatischen Mißgeschick im Palais de Justice.) – „Das sind die Herrn Untersuchungsmeister vom königlichen Hof.“ – „Und das wilde Schwein ganz vorn?“ – „Der Herr Parlamentsschreiber.“ – „Das Krokodil rechts?“ – „Meister Jacques Charmolue, Prokurator des Königs im geistlichen Gerichtshofe mit dem Herrn Offizialen.“ – „Was wollen denn alle diese braven Leute?“ – „Ein Urteil sprechen.“ – „Über wen? Ich sehe keinen Angeklagten.“ – „Über eine Frau. Ihr könnt sie nicht sehen. Sie dreht uns den Rücken zu und ist für uns im Gedränge verborgen. Dort wo Ihr die Partisanengruppe seht, muß sie stehen.“ – „Wer ist denn die Frau? Wißt Ihr ihren Namen?“ – „Nein, ich bin soeben erst gekommen. Ich glaube, Hexerei ist dabei im Spiel, weil der Offizial gegenwärtig ist.“ – „Aha! Wir werden sehen, wie diese Herren Menschenfleisch fressen. Das ist ein Schauspiel, wie jedes andere.“ – „Herr, findet Ihr nicht, daß Meister Charmolue sehr sanft aussieht?“ – „Hm! Ich habe kein Vertrauen zu einer Sanftmut mit zusammengekniffenen Nasenlöchern und dünnen Lippen.“
Hier geboten die Nahestehenden den beiden Schweigen. Man hörte eine wichtige Zeugenaussage.
„Gnädige Herren“, sprach ein altes Weib, dessen Gesicht so sehr unter ihren Kleidern verschwand, daß man es für einen wandelnden Lumpenhaufen hätte halten können, „die Sache ist so wahr, als wie ich Falourdel heiße und schon vierzig Jahre auf dem Pont
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