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Der glücklose Therapeut - Roman

Der glücklose Therapeut - Roman

Titel: Der glücklose Therapeut - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Noam Shpancer
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Konzept » Wahrheit« gar nicht erst exis tiert.
    Nach einer Weile war ich mir ziemlich sicher, dass Barry Long bipolar war. Doch für Bipolarität gibt es keinen Lackmustest; es gibt kein Röntgenbild, keinen Bluttest, nichts zu ertasten, nichts aufzuschneiden oder zusammenzunähen, keine Worte auf Papier. Ich musste mich hauptsächlich auf Barrys Berichte verlassen, deren Worte sich in Luft auflösten; und er war nicht der zuverlässigste Berichterstatter, auch wenn sein Mangel an Zuverlässigkeit meine Diagnose bekräftigte. Es wäre hilfreich gewesen, von jemandem, der ihn kannte, weitere Informationen zu erhalten, doch seine Familie lebte in Texas, und er wünschte keinen Kontakt mit ihr, und Barry zufolge wollte auch sie keinen mit ihm. Mimi wollte er nicht in die Sache hineinziehen, da sie Krankenhäuser und Kliniken hasste und mit ihren eigenen Problemen zu kämpfen hatte. Sie hatte seinetwegen schon genug gelitten, und er würde ihr nicht noch mehr zumuten.
    Und dann verschwand er.
    Zunächst war ich erleichtert. Ich lüftete mein Büro und stellte frische Blumen in die Vase. Der Mittwoch wurde erträglicher. Der Dienstag ebenfalls und auch der Donnerstag. Nach einem Monat rief ich bei ihm zu Hause an, denn Theresa, unsere allwissende Büroleiterin, erinnerte mich im Auftrag John Savoias sanft, aber entschieden daran, dass ich mich an das übliche Prozedere halten müsse. Der Anrufbeantworter informierte mich mit Barry Longs schwacher Stimme: »Ich bin nicht da. Hinterlassen Sie eine Nachricht.« Was ich tat. Es kam kein Rückruf. Ich dokumentierte diesen Anruf in seiner Akte und schob sie wieder tief in die Schublade. Doch nach weiteren zwei Wochen verpuffte meine Erleichterung, wie jedes Mal, und das Thema Barry Long begann mich erneut zu beschäftigen.
    Sein Verschwinden an sich machte mir keine Sorgen. Ein Klient kann jederzeit ohne Vorwarnung verschwinden, vielleicht für immer, und als Therapeut hat man keinen Anspruch auf ihn. Kein Recht, benachrichtigt zu werden, und auch keine Verpflichtung, nach ihm zu suchen oder sich Sorgen zu machen. Das sind die Paradoxa, mit denen wir leben müssen.
    Seltsamerweise fürchtete ich nicht um sein Leben: Ein erfolgreicher Selbstmordversuch ist selten, selbst unter Depressiven, und seltene Vorkommnisse können nicht akkurat vorhergesagt werden. Die Gesamtheit der NASA -Ingenieure kann den Misserfolg einer Raumfähre nicht vorhersagen. Als Therapeut kann man seine Tage nicht in Furcht verbringen, denn dann ist das Leben kein Leben mehr, und was für ein Beispiel wäre das für unsere Klienten?
    Nein. Mein ungutes Gefühl verdankte sich der Tatsache, dass sich das Bild dieses Mannes – der verängstigt und verwirrt, hager und mit totem Blick durch die Türen eines Walmart trat und zwei riesige, glänzende Staubsauger hinter sich herzog, um sie seiner geliebten Mimi mitzubringen, um sie zu trösten und zu besänftigen, damit sie ihn nicht verließ –, dass dieses Bild sich in mein Bewusstsein geätzt hatte wie eine Tätowierung.
    » Einer meiner Klienten ist verschwunden, schon über einen Monat « , erzählte ich John Savoia im Blind Mule Bistro. » Ich vermute, er ist in einer manischen Episode mit der Polizei in Konflikt geraten. Wie auch immer, ich habe seit einiger Zeit nichts mehr von ihm gehört. «
    » Wir haben in unserem Zentrum eine Abbruchrate von zwanzig Prozent, das liegt nebenbei gesagt unter dem nationalen Durchschnitt « , sagte John. » Warte noch zwei Wochen, und wenn du bis dahin nichts von ihm hörst, schicken wir ihm einen Abschlussbrief. Gib einfach Theresa Bescheid, dann erledigt sie das. Es gibt in diesen Fällen eine festgelegte Vorgehensweise und gute Gründe dafür. «
    » Ich habe ein ungutes Gefühl « , murmelte ich.
    » Die, die Katastrophen vorhersagen, haben gewöhnlich nicht recht « , sagte er. Und ich wusste, dass er gewöhnlich recht hatte.

13
    A n jenem Freitagabend kam ich früher nach Hause als sonst. Zwei Klienten hatten nacheinander abgesagt, und ich beschloss, früh nach Hause zu fahren und mich zu entspannen. Alex rief an und sagte, sie werde spät nach Hause kommen. Ich bestellte mir eine Pizza und setzte mich ins Wohnzimmer vor den Fernseher. Als vierzig Minuten später der Pizzabote kam, hatte ich nicht genügend Bargeld. Ich wusste, dass Alex die Angewohnheit hatte, Geld in ihren Manteltaschen zu vergessen. Ich ging an ihren Schrank und durchsuchte die Taschen ihres Wintermantels. Zusammen mit einem

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