Der glücklose Therapeut - Roman
der Mann versucht zu entkommen, bis er gegen seinen Willen umgarnt ist und schweren Schrittes zum Altar geschleppt wird. So lautet der Mythos. Doch in Wahrheit ist es genau umgekehrt. Sämtliche Studien beweisen das. Verheiratete Männer sind gesünder, wohlhabender und glücklicher. Sie haben mehr Sex, arbeiten härter, leben länger und sind seltener krank. Sämtliche Dividenden einer Ehe gehen auf das Konto der Männer. Und die Frauen? Gewinnen eigentlich nichts. Verheiratete Frauen gehen leer aus – sie sind unverheirateten Frauen gegenüber nicht im Vorteil … «
» Danke « , sagte ich. » Als Schulter zum Ausweinen verkaufst du dich quasi von selbst, John. «
» … und darüber hinaus « , fuhr er fort, als ob er mich nicht gehört hätte, obwohl er mich sehr wohl gehört hatte, » glaubt man im Allgemeinen, Frauen litten unter einer Scheidung. Doch auch dazu stehen die Fakten in Widerspruch. Wie sich zeigt, erholen Frauen sich schnell. Es ist der geschiedene Mann, der leidet. Wir sind das schwache Geschlecht « , sagte John. » Und zwar von Anfang an. Männliche Föten gehen vermehrt früher ab. Die meisten Störungen in der Kindheit betreffen Jungen … « Er hob mit wohlgeübter, selbstzufriedener Geste sein Glas. » Das sind die Daten. Daran besteht kein Zweifel. «
» Nochmals danke, John « , sagte ich, » aber vielleicht sind deine Daten für mich im Moment wenig hilfreich. «
» Ah « , sagte er mit einem schlauen Lächeln, » Daten sind immer hilfreich. Fakten sind immer deine Freunde. Wissen ist eine Gnade. Am Ende des Tages trägt das Offensichtliche den Sieg davon. «
» Am Ende des Tages « , seufzte ich. » Ja. Aber was ist, wenn der Tag kein Ende nimmt? «
» Jeder Tag nimmt ein Ende « , sagte er.
Ich sah ihn an, sein klares, blasses Gesicht, sein helles, lichter werdendes Haar, sein sorgfältig gebügeltes Hemd und seine manikürten Fingernägel. Ich wusste nicht, ob John dachte, mein Tag habe bereits geendet oder das Ende stünde erst noch bevor. Ich wusste nicht, was er dachte. Ich wusste nicht einmal, was ich selbst dachte.
Wir saßen da und tranken. Dann sagte er: » Ich werde zu Hause erwartet. « Er klopfte mir sachte auf den Rücken, nahm seinen Aktenkoffer und ging.
15
A ls ich am darauffolgenden Mittwoch nach einem Termin nachmittags aus meinem Büro kam, lief Theresa auf dem Flur hinter mir her und sagte: »Ein alter Klient von dir ist aufgetaucht.«
» Welcher? «
» Der Komische. «
Der Komische. Ich habe zu allen Zeiten vierzig Klienten, und auf mindestens ein Drittel von ihnen traf diese Beschreibung mit einer gewissen Berechtigung zu, doch ich wusste auf der Stelle, wen sie meinte.
» Barry Long? Was wollte er? «
» Er sagte, mittwochs um drei sei euer Termin. Er dachte offenbar, er hätte einen Termin. Ich sagte, dass du bereits jemand anderen eingetragen hättest. Ich fragte ihn, ob er im Voraus angerufen hätte, um einen Termin auszumachen, aber daraufhin hat er nur etwas in seinen Bart gemurmelt. Ich habe ihn nicht richtig verstanden. Ich bat ihn zu warten, aber das wollte er nicht. Er sagte, er müsse den Bus nach Texas erwischen. «
» Den Bus nach Texas? «
» So habe ich ihn verstanden. Eigentlich hat er es mehr so vor sich hingemurmelt … «
» Wann ist er weggegangen? «
» Vor ungefähr zehn Minuten. «
» Wie sah er aus? «
» Wie er aussah? «
» Du hast ihn gesehen « , sagte ich. » Wie kam er dir vor? «
» Er wirkte verängstigt. Verwirrt … «
» Danke, Theresa « , sagte ich und prüfte, ob ich Schlüssel und Brieftasche bei mir hatte. » Hör zu. Ich muss gehen. Ruf meine restlichen Klienten an und sage ihnen für heute ab. Bitte tu das für mich. « Ich rannte Richtung Ausgang und fuhr zum Busbahnhof in der Innenstadt. Warum tat ich das? Ich weiß es nicht. Ich hatte ein ungutes Gefühl, ein saures Rumoren in der Magengrube, wie wenn man in die Ferien fährt und plötzlich glaubt, man habe zu Hause möglicherweise den Herd angelassen. Als ich in Richtung Busbahnhof raste, versuchte ich mir klarzumachen, dass es nicht meine Aufgabe war, ihm nachzujagen; dass er, wenn er meine Hilfe gewollt hätte, nicht über einen Monat verschwunden geblieben wäre. Doch andererseits war er gerade in meiner Praxis aufgetaucht und hatte Theresa erzählt, wo er hinwollte. War das ein Versehen? War es Zufall? Vielleicht; vielleicht auch nicht.
Ich parkte genau gegenüber des Bahnhofs an einer Parkuhr, rannte über die Straße und stieß die
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