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Der glücklose Therapeut - Roman

Der glücklose Therapeut - Roman

Titel: Der glücklose Therapeut - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Noam Shpancer
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hatte sich über den ganzen Horizont ergossen. Das Meer, das den ganzen Tag leuchtend blau und türkisfarben gewesen war, nahm eine dunklere, von Karmesin durchsetzte Färbung an. In der Ferne sah ich die weißlichen Wellenkämme, die sich an dem Riff brachen, das die Insel umgab. Der Strand war verlassen. Unter mir winzige Sandlöcher, zwischen denen Hunderte winziger Krebse hin und her huschten. Zu meiner Rechten neigte sich ein wackliger Steg dem Wasser zu, an dem etliche ausgeblichene Wellenbretter angebunden waren. Zu meiner Linken erkannte ich in mittlerer Entfernung die funkelnden Lichter eines anderen Hauses. Allmählich versammelten sich die Sterne am Himmel wie eine Menschenmenge vor Beginn eines Konzerts, als erwarteten sie, dass ich für sie sang und tanzte. Doch ich hatte weder Musik noch Tanz zu bieten.
    Ich hatte Zeit, über alles nachzudenken. Unverplante, einladende Zeit, wie frische Bettlaken. Ich hatte Zeit, über meine Frau nachzudenken, die ich verloren hatte; über meine ferne Tochter, die demnächst heiraten und aus dem Nest flüchten würde, das zuerst sie hinausbefördert und im Stich gelassen hatte; die ernsthafte Sam, die nicht nur das hübsche Gesicht ihrer Mutter geerbt hatte, sondern auch ihr Temperament, ihr störrisches Kinn, die klaren Augen, die aussahen wie ein blauer Himmel, der zum Horizont hin immer dunkler wurde. Die liebe Sam, die jetzt mit grimmiger Beharrlichkeit über ihren Büchern und ihren Hausarbeiten hockte und wenig später in den Armen dieses Typen liegen würde, an dem sie jetzt hing, dieses Typen mit dem melodischen Namen, der geflissentlich über Geheimnisse hinwegging und sie für sich behielt. Vielleicht war es aber auch nur ich, der geflissentlich über ein Geheimnis hinwegging.
    Für all das hatte ich jetzt Zeit. Doch das Einzige, was ich in dieser ruhigen, stillen Nacht am Strand zustande brachte, war, einen Haufen kostbare Zeit zu nehmen und sie wie ein zwanghafter Spieler auf eine einzige Zahl zu setzen, die unmöglich gewinnen konnte. Ich dachte plötzlich an Barry Long. Vor allem anderen war es sein Bild, das sich in meinen Gedanken festkrallte; ausgerechnet das Bild dieses traurigen, kränklichen Mannes, der sich an seine geliebte Mimi klammerte und sich mit seiner ganzen schwindenden Kraft auf sie stützte, während sein Verstand flackerte wie eine Kerze im Sturm; ausgerechnet dieses Bild sah ich, Barry Long, von einer Nikotinfahne umweht, schüchtern, mit verhangenem Blick. Inmitten all dieser Schönheit und Ruhe wanderten meine Gedanken zu meinem Klienten und verharrten dort.

35
    A m nächsten Morgen fuhr Carew mich zu seinem kleinen Boot, über das ein schmales Sonnensegel gespannt war. Ich setzte mich auf die mittlere Bank, und wir tuckerten langsam auf die Lagune hinaus. Das seichte Wasser war unglaublich klar und türkisfarben. Auf der Wasseroberfläche reflektierten funkelnd die Sonnenstrahlen. Von Zeit zu Zeit stellte Carew den Motor ab und deutete auf den Schatten einer Meeresschildkröte, eines geschmeidigen Hais oder auf einen Stachelrochen, der sich unter uns in den weichen Sand gegraben hatte.
    Wir fuhren in Richtung der Felsen, die die flache Lagune vom dahinterliegenden Ozean trennten. Schließlich warf er den Anker aus, zog sein Hemd aus und nahm aus einer versteckten Lade in seinem Boot einen kurzen Speer. Er hieß mich zu warten und sprang ins Wasser. Ein paar Minuten später reckte er die Hand über den Bootsrand und warf mir einen riesigen Hummer vor die Füße. Das Tier landete mit einem Klacken und schob sich mit erhobenen Scheren schwerfällig rückwärts zwischen ein paar Taurollen. Es platschte, als Carew ein zweites Mal abtauchte, dann kam er mit einem Hummer wieder zum Vorschein, und dann mit noch einem. Carew kletterte zurück ins Boot, wischte sich mit der flachen Hand das Wasser aus dem Gesicht und sagte: » Das Abendessen. Einer ist für uns. Die anderen verkaufe ich ans Restaurant. « Dann stand er auf und zeigte auf einen rosa gefärbten Strandstreifen in der Ferne. » Flamingos « , sagte er.
    » Können wir näher hinfahren? « , fragte ich.
    » Wenn wir noch näher kommen, fliegen sie auf « , sagte er.
    Nachdem er mich am Nachmittag vor dem Haus abgesetzt hatte, ging ich wieder an den Strand. Und tatsächlich, das Wasser hatte sich zurückgezogen und einen schmalen Sandstreifen freigelegt, der die kleine Insel vor dem Haus mit dem Ufer verband. Und da so unmittelbar vor mir eine Brücke aufgetaucht war, konnte ich

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