Der glücklose Therapeut - Roman
grässliche Kreatur, die schon seit geraumer Zeit immer wieder hier an meiner Wand auftauchte. Das Tier war sehr groß und ekelerregend, mit einem länglichen, halb durchscheinenden Körper und unzähligen wimpernzarten Beinen.
Als der Tausendfüßer das erste Mal auftauchte, lief mir bei seinem Anblick ein Schauder über den Rücken. Ich wollte ihn mit meinem Hausschuh erschlagen, doch mein Schatten, der auf ihn fiel, veranlasste das Tier zur Flucht; es krabbelte eilig die Wand entlang und verschwand in einer Ritze.
Der Anblick eines Insekts ist immer enervierend, denn er verheißt schlechte Nachrichten: Das Haus ist vernachlässigt und schmutzig, der Mülleimer quillt über, in einer Mauer oder im Fundament hat sich ein Riss gebildet und diese Invasion ermöglicht. Vielleicht nisten dieses Ungeziefer und seinesgleichen bereits irgendwo im Haus, geborgen im Schutz der Dunkelheit. Ein Insekt ist erschreckend, doch ein flinkes Insekt ganz besonders, denn man stellt sich vor, wie es in einer Ritze verschwindet und einen in dem Wissen zurücklässt, dass es sehr wohl noch da ist und irgendwo lauert, vielleicht unter dem Bett, vielleicht sogar neben dem Kopfende, nur ein paar Zentimeter vom Mund des Schläfers entfernt, der beim Atmen unbewusst offen steht.
Doch jetzt saß ich auf dem Bett, und noch immer flackerten mir die Bilder aus meinem Traum durch den Kopf. Plötzlich wurde mir bewusst, dass ich dieses Geschöpf nie irgendwo anders gesehen hatte als an dieser Stelle an meiner Wand, wo es dem Zufall oder einer versteckten Logik folgend alle paar Monate auftauchte und sich materialisierte wie ein Schatten. Ich hatte es nie kommen sehen, es war plötzlich da und saß starr an der Wand. Wenn ich nach ihm schlug, flüchtete es. Ich stellte mit Entsetzen fest, dass seine Bewegungen anmutig waren, leicht und mühelos; all diese Beine in koordinierter Bewegung, wie eine fedrig heranrollende Welle. Neben Abscheu und Angst empfand ich auch eine seltsame Bewunderung, denn die Bewegungen eines hässlichen Krabbeltiers sollten eigentlich nicht schön sein, nicht so mühelos synchron und schnell. Der Gedanke verwirrte mich.
Die Fühler der Kreatur bewegten sich sachte. Ich stand auf und ging in die Küche, um eine Spraydose Lysol und ein Papiertuch zu holen. Ich beeilte mich nicht, denn ich wusste, der Tausendfüßer würde dort an der Wand verharren, bewegungslos und durchscheinend, und in gnädigem Nichtwissen gelassen sein Ende abwarten, da er nicht wusste, dass es ein Ende gab, genauso wenig wie er wusste, dass es Leben gab. Er tauchte lediglich alle paar Monate auf, heftete sich still an diese Wand und verfiel in dieses seltsam gleitende Tempo, wenn ich mich in seine Richtung beugte, um ihn zu töten.
Auf dem Weg in die Küche lief mir eine Gänsehaut über den Rücken, und meine Knie gaben ein wenig nach. Eine so ekelerregende Kreatur, die aus dem Nichts auftaucht, musste ein Omen sein, ein Zeichen; unsere Ahnen wussten das nur allzu gut. Unser Gehirn, betonte Helprin stets, ist sehr alt. Sein wichtigster Daseinszweck besteht darin, Ordnung ins Chaos zu bringen, das versteckte Muster zu finden, den Leoparden im Gebüsch zu entdecken. Und so formte sich in meinem uralten Gehirn allmählich eine Ahnung, die sich schließlich in mein Bewusstsein drängte und sich von einer schwachen Hypothese zu tiefer Überzeugung erhärtete: dass diesem Geschöpf in meinem Leben eine Bedeutung zukam.
Vielleicht war es ein notwendiger Gedanke, doch willkommen war er nicht. Ich lief zurück ins Schlafzimmer und attackierte den Tausendfüßer, überschwemmte ihn mit Lysol und zerquetschte ihn mit dem Tuch. Sein dünner Körper löste sich in dem Papier praktisch in Nichts auf, nachdem er die Haftung an der Wand verloren hatte – ein Anhaften, das ich überhaupt nicht verstand. Als ich das zerknüllte Papiertuch in den Mülleimer warf, stieg in mir ein Gefühl der Verwunderung auf über dieses Geschöpf und über mein sehr altes Hirn und begann, wie ein Leuchtturm geduldig Signale in die dunklen Weiten meines Bewusstseins auszusenden.
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A ls Sam eine Woche später anrief, um sich nach meiner Reise und meinem Befinden zu erkundigen und außerdem um Geld für die Nachrüstung ihres Computers zu bitten, vermied ich es, das Gespräch auf ihren Verlobten zu lenken. Obwohl ich natürlich auf den geeigneten Moment lauerte, handelte es sich eindeutig nicht um ein Thema, das man am Telefon diskutieren konnte. Als sie das nächste Mal kam,
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