Der goldene Buddha
verlieren. Seng begriff, weshalb die Wachmannschaft aus so wenigen Personen bestand. Die Mauern waren überaus dick, und man konnte die unterirdischen Verliese nur durch einen einzigen Zugang erreichen. Eine Flucht war allein auf dem Weg möglich, den das Team der
Oregon
soeben zurücklegte. Der schmale und sehr hohe Gang wurde durch eine Reihe nackter Glühbirnen erhellt.
Die Stufen endeten schließlich vor einer gewaltigen Stahltür, die an einen Banktresor erinnerte. Eine Überwachungskamera starrte ihnen bedrohlich entgegen. Jetzt kam der heikle Teil, dachte Seng, als er den seltsamen runden Schlüssel ins Schloss schob. Er hoffte inständig, dass kein zusätzlicher Kode erforderlich sein würde.
Seine Befürchtung bewahrheitete sich, denn auf der anderen Seite der Tür ertönte ein Summer, sobald er den Schlüssel drehte. Wenig später meldete sich aus einem nahen Lautsprecher eine Stimme: »Wer da?«
»Oberst Antonio Yarayo, Staatssicherheit, mit einem Team zum Verhör der Gefangenen.«
Es herrschte kurz Stille. Seng wartete die Antwort gar nicht erst ab.
»Öffnen Sie. Ich bin dazu befugt und verfüge über die notwendigen Dokumente. Leutnant Sanchez hätte uns begleitet, aber er sagte, es sei nicht gestattet, das Tor unbewacht zu lassen.
Sie sind Sergeant Ignez Macco, nicht wahr?« Seng hielt den Umschlag hoch. »Falls Sie noch Fragen haben, dies hier ist Ihre Dienstakte.«
»Aber Señor«, erklang Maccos flehentliche Stimme. »Falls ich die Tür vor acht Uhr morgens öffne, wird bei der Staatssicherheit in Fort Canovar Alarm ausgelöst.«
»Ich habe Leutnant Sanchez angewiesen, den Türalarm abzuschalten«, bluffte Seng.
»Aber Señor, das kann er nicht. Die Tür hängt an einem separaten System, das direkt mit der Sicherheitskommandantur in der Stadt verbunden ist. Sie darf nicht vor acht Uhr morgens geöffnet werden.«
Es war ein Hindernis, aber kein völlig unerwartetes. Seng hielt jede Wette, dass die Sicherheitsoffiziere zunächst von einem Fehlalarm ausgehen und in der Festung anrufen würden, bevor jemand sich tatsächlich in Bewegung setzte.
Macco fiel auf Sengs Geschichte herein. Nach einigen Sekunden hörte man aus dem großen stählernen Schloss ein lautes Klacken, und dann glitten die Bolzen aus dem Rahmen und zurück in ihre Führungen. Die riesige Tür schwang leise auf. Sergeant Macco nahm Haltung an und salutierte.
Seng hielt sich nicht länger mit Spitzfindigkeiten auf, sondern richtete die Betäubungspistole auf Maccos Hals und drückte ab.
Der Posten verdrehte die Augen und fiel wie ein Sandsack zu Boden.
Das Verlies war kein hochmodernes Gefängnis. Die verrosteten eisernen Zellentüren stammten aus dem späten neunzehnten Jahrhundert und ließen sich mit einem großen antiquierten Schlüssel öffnen, den Macco am Gürtel trug. Seng schloss die ersten der Türen auf, jeweils unmittelbar gefolgt von Julia Huxley, die die Verfassung der Insassen untersuchte. Dann führten die Teammitglieder nacheinander alle Gefangenen auf den Gang hinaus. Die verängstigten Häftlinge rechneten mit dem Schlimmsten.
»Fünf sind nicht in der Lage, sich auf den Beinen zu halten«, sagte Julia. »Wir müssen sie tragen.«
»Okay, wir laden sie uns auf den Rücken«, erwiderte Seng.
»Die armen Teufel glauben, wir wollen sie umbringen«, sagte ein hoch gewachsener stämmiger Teamangehöriger mit roter Bürstenfrisur.
»Uns bleibt keine Zeit für Erklärungen!«, herrschte Seng ihn an. Er wusste, dass die Sicherheitsleute in der Stadt derzeit rätselten, wieso in Santa Ursula am späten Abend unvermittelt Alarm ausgelöst worden war. Sie würden anrufen und feststellen, dass niemand ans Telefon ging. Danach konnte es nicht mehr lange dauern, bis sie einen Einsatztrupp schickten.
»Julia, du kümmerst dich um diejenigen, die allein laufen können. Ihr andern tragt die restlichen Leute.«
Sie brachen auf und mussten die erschöpften Häftlinge beinahe aus dem Verlies und die Treppe hinaufzerren. Jedes der Teammitglieder trug einen Kubaner über der Schulter und half mit dem freien Arm anderen Gefangenen, die kaum die Stufen schafften. Julia bildete die Nachhut, stützte zwei Frauen und flüsterte ihnen aufmunternd zu. Die Bedeutung der Worte erschloss sich hoffentlich aus dem besänftigenden Tonfall – Huxleys Spanisch reichte höchstens aus, um eine Margarita zu bestellen.
Die gewundene Steintreppe erwies sich für die geschwächten Häftlinge als echte Tortur, aber es gab kein Zurück.
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