Der goldene Buddha
Jede Gefangennahme würde den sicheren Tod bedeuten. Mühsam schleppten sie sich die Stufen hinauf, ihre Brustkörbe hoben und senkten sich, ihre Lungen schrien nach Luft, ihre Herzen hämmerten. Männer und Frauen, die schon vor langer Zeit alle Hoffnung aufgegeben hatten, sahen nun plötzlich wieder die Chance, ein normales Leben zu leben – dank dieser Verrückten, die den Tod riskierten, um sie zu retten.
Seng hatte keine Zeit, sein Mitgefühl zu äußern oder in die ausgemergelten Gesichter zu blicken. Dafür würde später noch Gelegenheit genug sein, wenn sie sich sicher an Bord der
Oregon
befanden.
Er konzentrierte sich darauf, sie alle zum Tor zu scheuchen und dabei kühl und logisch zu handeln.
Schließlich erreichten sie die Wachbaracke. Seng trat vorsichtig auf die Straße hinaus. Es war weder ein Laut zu hören noch irgendjemand zu sehen. Der Lastwagen stand dort, wo sie ihn verlassen hatten.
Die Teammitglieder keuchten inzwischen unter ihrer Last und waren wegen der tropischen Luftfeuchtigkeit schweißgebadet.
Seng suchte die dunkle Straße sorgfältig mit dem Nachtsichtgerät ab. Die Luft war rein. Zufrieden winkte er die anderen heran und schickte sie in Richtung des Lasters.
Dann lief er zurück in das Büro und sah nach dem Wachposten. Der Mann war immer noch bewusstlos. Auf einem Schaltpult neben dem Tisch blinkte ein rotes Lämpchen.
Demnach war tatsächlich Alarm ausgelöst worden. Das Telefon klingelte. Er nahm den Hörer ab. »
Uno momento!
«
Dann legte er den Hörer auf den Tisch und rannte hinaus.
Das Rettungsteam und die befreiten Gefangenen zwängten sich auf die Ladefläche des Lastwagens – fast wie japanische Arbeiter während der Rushhour. Der Fahrer legte den Gang ein, wobei das alte Getriebe metallisch knirschte, und der Laster machte einen Satz nach vorn. Auf den Straßen sah es immer noch so aus wie zuvor. Es gab kaum Verkehr, und die Kubaner genossen den lauen Abend auf ihren Baikonen, an Tischen auf den Gehwegen oder in den Cantinas, wo sie tranken, tanzten und sangen.
Seng streckte den Kopf aus dem Fenster und lauschte auf Alarmsignale oder Sirenen, doch die Nachtluft trug lediglich leise Musik an seine Ohren. Das lauteste Geräusch stammte vom Auspuff des Lastwagens, der sich vom Krümmer des Motors zu lösen schien und schon bald alles andere übertönte. Seng sah, dass manche Kubaner ihnen zwar kurze Blicke zuwarfen, sich aber gleich wieder abwandten. Auf den Straßen von Santiago waren lockere oder verrostete Auspuffanlagen keine Seltenheit.
Die Bürger der Stadt ließen sich dadurch nicht bei ihrem Freizeitvergnügen stören.
Der Fahrer fuhr zum Verrücktwerden langsam, aber Seng hatte nicht vor, ihn zur Eile anzutreiben. Auf diese Weise erregten sie wenigstens keine Aufmerksamkeit. Nach fünfzehn Minuten, die sich wie eine Stunde anfühlten, hielten sie neben einem Lagerhaus am Hafen. Seng ließ den Blick über den menschenleeren Kai schweifen und schickte dann alle zu dem Geräteschuppen. Der fünfminütige Fußweg verlief ereignislos.
Das Glück blieb ihnen weiterhin treu. Nur bei den beiden Schiffen und ihrer Containerfracht herrschte noch Betrieb. Seng blieb aufmerksam, doch seine Anspannung ließ nach. Er führte die Leute durch das Gebäude und die Holztreppe hinunter. Im Dunkeln sah er die Silhouette des Steuermanns der Nomad, der auf dem Schwimmdock stand und den Kubanern an Bord half.
Sein Kollege wartete unten und wies den Passagieren Plätze in der engen Hauptkabine der Nomad zu.
Als Seng und Julia Huxley als Letzte die Nomad bestiegen, machte der Steuermann sofort die Leinen los, blickte kurz auf und sagte: »Ihr liegt gut in der Zeit.«
»Bringt uns so schnell wie möglich zum Schiff«, erwiderte Seng. »Wir haben einen Alarm ausgelöst; es ließ sich leider nicht vermeiden. Ich bin überrascht, dass uns nicht schon längst ein kubanischer Einsatztrupp im Nacken sitzt.«
»Falls man euch bisher nicht entdeckt hat«, sagte der Steuermann zuversichtlich, während er die Luke schloss und verriegelte, »wird man auch jetzt nicht erraten, woher ihr gekommen seid.«
»Zumindest nicht, bis man die
Oregon
an ihrem zugewiesenen Ankerplatz vermisst.«
Wenige Sekunden später sank das U-Boot unter die dunkle Wasseroberfläche und tauchte nach einer Viertelstunde im Becken der
Oregon
wieder auf. Der Kran hob die Nomad sanft auf die Höhe des zweiten Decks an, wo sie an der Galerie vertäut wurde. Huxleys Sanitätsteam und einige andere
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