Der goldene Greif
langweiligen Stunden, die er jeden Tag mit seinen Lehrern zubringen mußte, die sich bemüht hatten, dem lebhaften, ungebärdigen Kind all das beizubringen, was er als zukünft i ger König wissen sollte. Fürwahr eine nicht gerade leichte Aufgabe, wie er sich nun lächelnd im Stillen gestand. Er hatte leicht gelernt und leicht begriffen, aber nie hatte ihn etwas sehr lange gefesselt, und er hatte es schnell verstanden, seine geplagten Magister mit ein paar Streichen so aus der Fa s sung zu bringen, daß er ihnen entwischen konnte. Mit Wehmut dachte er an seinen Vater, der ihn dann zwar heftig schalt und ihn mit Strafen belegte, aber im Gehe i men über die Einfälle seines Sohnes lachte. Raigo hatte einmal gehört, wie er zu den klageführenden Magistern gesagt hatte: „Was beschwert ihr euch? Zeigt er euch nicht, daß er schlau ist? Laßt nur, er wird schon ruhiger und einmal ein rechter K ö nig werden!“
Raigo seufzte. Wie lange lag das doch zurück, und wie weit war er davon entfernt, die Pr o phezeiung seines Vaters zu erfüllen! Mit Sehnsucht im Herzen betrachtete er die friedliche Landschaft, durch die er ritt, und die der Heimat so ähnlich war. Er hatte Ahath die Zügel freigegeben und überließ es dem Pferd, das Tempo zu bestimmen. Und als ob Ahath die Gefühle seines neuen Herrn verstünde, war er nur in einen leichten Trab gefallen, der Raigo nicht von seinen Gedanken ablenkte.
Raigo ritt, bis die hereinbrechende Dunkelheit ihn seinen Weg nicht mehr erkennen ließ. Zwar hatte er kurz vorher wieder ein Dorf passiert, aber die Nächte waren warm, und so zog er es vor, im Freien zu übernachten. Die Nähe fremder Menschen war ihm heute nicht a n genehm. So lag er bald ein wenig abseits vom Weg hinter einem dichten Gebüsch und blic k te zu den Sternen auf. Wenige Schritte neben ihm tat sich Ahath an dem saftigen Gras gü t lich. Raigo hatte ihn nicht angebunden. Er war sicher, daß ihn das Pferd freiwillig nicht wi e der verlassen würde. Immer noch konnte er es kaum fassen, daß dieses prachtvolle Tier sein Eigentum war, und er war erfüllt mit Dankbarkeit für Tamantes und Scharin. Und dann stieg das liebliche Bild Corianes vor ihm auf, ihre schlanke Gestalt, das weiche, kastanie n farbene Haar, ihre meergrünen Augen, die vollen, weichen Lippen. Ein heißer Schmerz durchzuc k te sein Herz. Er griff nach dem Medaillon um seinen Hals, und es war ihm, als höre er ihre sanfte Stimme sagen: ,Komm wieder, mein Geliebter! Ich warte auf dich. ‘ Ja, Coriane, ich komme zurück, wenn die Götter es schenken, dachte er. Und mit ihrem Bild vor Augen versank er in das kurze Vergessen des Schlafs.
Auch am nächsten Tag ritt er durch einige Dörfer und sah auch des Öfteren abseits vom Weg einzelne Gehöfte liegen. Zweimal kehrte er in einer der Dorfschenken ein, um den von Tamantes überlassenen Reiseproviant nicht angreifen zu müssen. Bald würde er die Gre n zen Imarans erreichen, und das angrenzende Land war karg und nur spärlich besiedelt. Auch hier wurden die Felder schon mager, Disteln und G e strüpp wuchs an ihren Rändern, und die Wiesen waren trocken und voller Steine.
Am Abend bat Raigo in einem einsamen Gehöft um ein Nachtlager, das ihm freundlich g e währt wurde. Der Bauer, ein hagerer Mann, sehnig und dunkel, beschrieb ihm auf seine Frage den weiteren Weg. Wenn er nicht zu langsam ritt, konnte er am Nachmittag des nächsten Tages den ausgedehnten Wald erreichen, hinter dem die Grenze verlief. Raigo fragte, ob der Wald von Räubern unsicher gemacht würde.
„Nein, Herr!“ antwortete der Bauer. „Was sollten sie auch rauben? Nur selten wird dieser Weg benutzt, denn die große Handelsstraße führt weiter westlich vorbei. In dieser Richtung liegt nur die unwirtliche Nima, eine halbe Wüste auf der Hocheb e ne, in der niemand lebt. Der Boden ist dort felsig und trocken. Nichts wächst dort außer einem bißchen hartem Gras und ein paar spärlichen Büschen. Doch wenn man von hier aus nach Westen geht, stößt man auf ein fruchtbares, weites Tal, wo der Goanda entspringt, der erst nach Süden und dann am Rand der Berge nach Westen fließt. In diesem Tal liegt die kleine Stadt Sepinkora, der letzte Handelsposten vor der Grenze. Doch niemand aus unserer Gegend ist je dort g e wesen. Was sollten wir dort auch? Wir verkaufen unsere Ernten hier im eigenen Land. Und wer sollte wohl weiter nach Süden gehen wollen? Niemand kann das Gebirge dort überqu e ren, und nur Wahnsinnige oder
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