Der goldene Kelch
Nacht zu erinnern. War es ein Traum? Nein. Irgendetwas war geschehen. Mitten in der Nacht hatte er etwas wahrgenommen. Schritte? Ein Geräusch? Ja, ein Geräusch. Er war aufgewacht und hatte gefürchtet, es wären die knarzenden Lederangeln von Gebus Tür. Aber nun wusste er, dass es die Schwingen von Vaters Ba waren.
Er tauchte den irdenen Becher in den Krug und trank. Dabei kam ihm eine Idee; er drehte sich um. Auf dem Regal stand ein Teller mit zwei Fladen, einer halben Zwiebel und dem kärglichen Rest eines Salzfisches, der von Gebus Frühstück übrig war. Ein Festessen im Vergleich zu sonst!, dachte Ranofer. Gewissenhaft teilte er das Essen in zwei Portionen, sogar mit den Krumen war er peinlich genau. Die eine Portion aß er, die andere verstaute er in seinem verschossenen Gürtelband und lief aus dem Hof. Auf der Straße warf er einen bangen Blick auf den Sonnenstand. Wenn er sich beeilte, könnte er seinem Vater sogar noch danken.
Ein paar Minuten später hastete er atemlos über einen Pfad nordwestlich der Totenstadt, wo das Bergmassiv in einer Biegung zum Fluss verlief. In der sandigen Wüstenlandschaft lagen die Gräber der Armen; neben jedem Grab stand ein irdener Krug oder ein Teller mit den ausgedörrten Überresten des Opfermahls. Hinter diesem bescheidenen Gräberfeld erhoben sich schroffe Felsen, in die die Gräber der besseren Leute, Handwerker, Schreiber und Händler, gehauen waren. Dort war auch Thutras Grab. Vor dem Eingang blieb Ranofer einen Augenblick stehen, um Atem zu schöpfen, dann betrat er voller Ehrfurcht den kleinen Gebetsraum. Es war nur eine niedrige, in den Fels gehauene Nische; an einer Seite war eine Opfertafel, gegenüber stand eine kleine Steinstatue von Thutra. Gegenüber dem Eingang befand sich eine Scheintür vor dem zugemauerten Gang, der direkt in die Grabkammer führte. Ranofer starrte die Tür mit großen Augen an. Sie konnte nicht geöffnet werden, trotzdem war Thutras Ba auf geheimnisvolle Weise letzte Nacht herausgeschlüpft und auf leisen Schwingen in die Straße zum Krummen Hund geflogen, um seinem Sohn zu helfen.
Ranofer drehte sich um und betrachtete die Statue. Sie war kein gutes Abbild seines Vaters. Gebu hatte einen billigen Bildhauer beauftragt, der sich nicht die geringste Mühe gemacht hatte. Die Statue sah in keiner Weise jenem Thutra ähnlich, der in Ranofers Erinnerung lebte, aber sie war alles, was er noch von ihm hatte. „Vater“, flüsterte er.
An diesem stillen Ort klang seine Stimme wie ein seltsames Rauschen. Vorsichtig schielte er auf die Scheintür, hin und her gerissen zwischen Hoffnung und Angst, aber der Vogel mit dem Menschenkopf erschien nicht. Er knotete sein Gürtelband auf und legte die Essensreste auf die Opfertafel – ein ärmliches Mahl für einen Vater! Vielleicht hätte er die andere Portion doch nicht essen sollen.
Aber ich war doch so hungrig, Vater wird Verständnis haben, dachte er. Er wandte sich wieder der Statue zu und flüsterte: „Danke, Vater. Es tut mir Leid, dass ich dir nichts Besseres bringen konnte. Aber, bitte, bitte, komm wieder!“ Mit einer Verbeugung und einem letzten ehrfürchtigen Blick auf die Scheintür ging er rückwärts aus dem Gebetsraum.
Während er zu Rekhs Goldhaus rannte, überdachte er noch einmal den Plan. Als er in der Straße der Goldschmiede ankam, wusste er, es war ein guter Plan, aber er barg ein Risiko: Er musste Heqet einweihen. Konnte er dem Jungen trauen? Er kannte ihn schließlich erst seit zwei Tagen. Je länger er darüber nachdachte, desto riskanter schien ihm die Sache.
Trotzdem – es musste sein. Es gab keinen anderen Weg. Er musste Heqet alleine sprechen.
Heqet war nirgends zu sehen, als Ranofer auf das vertraute Tor zueilte. Die Straße war fast ausgestorben. Schlechten Gewissens fing er wieder an zu rennen, aber als er den Hof betrat, war das Gold schon gewogen und die Goldschmiede machten sich bereits an die Arbeit. Rot im Gesicht und ganz außer Atem ging er zu Rekh. „Entschuldige bitte meine Verspätung, Neb Rekh. Ich musste meinem Vater unbedingt ein Opfer darbringen.“
„Mögen seine Dreitausend Jahre voller Freude sein. Du bist entschuldigt, Sohn, der du deinen Vater ehrst!“, gab Rekh fast feierlich zurück. „Geh jetzt zum Ersten Gesellen und lass dir eine Arbeit geben.“ Sata stand mit Heqet hinten im Hof. Er drehte sich um, als Ranofer kam und brüllte, dass es alle hören konnten: „Da bist du ja endlich! Wo warst du denn den halben Morgen lang, du
Weitere Kostenlose Bücher