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Der goldene Kelch

Der goldene Kelch

Titel: Der goldene Kelch Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Eloise Jarvis McGraw
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Bäckerjungen, und ein paar anderen Burschen, die er kannte, Grüße zu. Er konzentrierte sich ganz auf seine Bewegungen, um das Unbehagen zu verdrängen, das langsam in ihm aufstieg und immer größer wurde, je näher er der Straße zum Krummen Hund kam. Je stärker aber sein Unwohlsein wurde, desto schneller rannte er, als wollte er durch die Geschwindigkeit ein Bollwerk gegen seine quälenden Gedanken errichten.
    Außer Atem kam er vor dem Tor an, stieß es auf und betrat den Hof. Beim gewohnten Anblick der schmutzigen Platten aber brach sein innerer Damm und die große Zuversicht des Tages wurde unter einer Flut schwärzester Angst begraben.
    Er war mit leeren Händen nach Hause gekommen. Er hatte Gebu die Stirn geboten.
    Vergeblich versuchte er, sich an seinen Entschluss, den er gestern Nacht stolz gefasst, und an die mutigen Worte, die er sich zurechtgelegt hatte, zu erinnern. Hinter ihm schlug das Tor zu; es klang wie der Kiefer eines Krokodils, der sich über ihm schloss. Gebu saß hinten im Hof auf der untersten Stufe. Langsam erhob er sich.
    Eine halbe Stunde später kauerte Ranofer auf den rauen Steinplatten und versuchte, sein Nasenbluten zu stillen. Gebu stand über ihm. Sein Gesicht war wie versteinert, nur sein eines Auge zuckte, die Fäuste waren geballt wie zwei Hämmer. Heiser vor Zorn sagte er: „Hast du das jetzt begriffen? Ist das endlich in deinen Dummschädel gegangen?“
    Ranofer nickte schwach. Er brachte kein Wort heraus. Sein ganzer Körper war ein einziger Schmerz, in seinem Kopf herrschte nur noch Panik und Schrecken.
    „Ich kann’s dir aber auch noch mal einbläuen, wenn’s nötig ist. Du wirst das alles wieder gutmachen. Du bringst morgen den Weinschlauch und du wirst überhaupt den Weinschlauch jedes Mal bringen, wenn ich es sage. Hast du gehört? Hast du verstanden?“ Ranofer nickte wieder. Die frischen Striemen auf seinem Rücken brannten wie Feuer. Gebu sah ihn voller Verachtung an und begann, zwischen seinen Zähnen herumzustochern; die Essensreste schnippte er vom Fingernagel. „Ich würde dir Feuer unterm Hintern machen, wenn du bei mir arbeiten würdest, das schwör ich dir bei Amun! Faul und frech bist du geworden! Spielst den lieben, langen Tag mit Gold rum und machst, was du willst! Ein Wort von mir, und du betrittst nie wieder Rekhs Hof! Wie würde dir das gefallen, hä, du Teufelsbrut?“ Ranofer starrte ihn entsetzt an. Gebu kräuselte zufrieden die Lippen.
    „Na, siehst du! Du solltest besser nach meiner Pfeife tanzen! Du bist Gehilfe in einem Goldhaus. Das willst du doch sein, oder? Wenn du noch einmal frech wirst – nur noch ein einziges Mal –, dann kommst du zu mir als Steinmetz in die Lehre. Schließlich will ich etwas von dir haben.“
    Gebu ging in sein Zimmer hinauf; Ranofer starrte ihm schockiert nach. Steinmetz… Zu Gebu in die Lehre… Den ganzen Tag in Reichweite von Gebus Fäusten… Den ganzen Tag mit großen, schweren Hämmern und Meißeln Steine behauen, anstatt Goldblätter zu schlagen oder zuzusehen, wie sich das Gold im Tiegel in dunkelrote Schmelze verwandelte. Sieben Jahre würde er wie ein Sklave bei Gebu ein Handwerk erlernen müssen, das er hasste, und nie mehr die Arbeit verrichten können, die er liebte!
    Seine Bestürzung schlug schnell in Verzweiflung um. Es war sinnlos, sagte er sich, es hatte alles keinen Zweck. Benommen vor Schmerz und Hunger kroch er auf seine Matte und vergrub das Gesicht in den Armen.

4
     
     
     
    Ranofer erwachte mit einem fertigen Plan im Kopf. Blinzelnd und verwirrt setzte er sich auf. Träumte er etwa noch? Bevor er gestern Abend eingeschlafen war, hatte er keine Hoffnung mehr gehabt und keinen Ausweg mehr gesehen. Doch nun hatte er die Lösung. Er konnte es kaum glauben! Sorgfältig prüfte er den Plan; mit Ausnahme eines kleinen Risikos war er perfekt. Bestimmt hatten die Götter ihm den Plan gebracht, während er schlief.
    Es war wahrscheinlich nur ein Gott gewesen, dachte er schon ein wenig bescheidener, nachdem er seine Matte zusammengerollt hatte und zur Vorratskammer ging, ein kleiner Gott, der mir um meines Vaters Willen geholfen hat. Oder es war gar kein Gott gewesen, sondern Vater selbst?
    Reglos stand er neben dem Wasserkrug und spürte, wie ihm die Tränen in die Augen stiegen, seine Lider brannten. Wenn das wahr wäre! Wenn der Ba seines Vaters manchmal nachts aus dem Grab flattern würde, um nachzusehen, ob es ihm gut ginge… Er kniff die Augen zusammen und versuchte, sich an die vergangene

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