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Der goldene Kelch

Der goldene Kelch

Titel: Der goldene Kelch Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Eloise Jarvis McGraw
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dachte er. Gebu wird mich umbringen. Ich muss schnell weglaufen!
    Aber wohin? Es gab keinen Ort, an den er gehen konnte. Und die Nacht war voller Gefahren. Müde und zitternd vor Erschöpfung, die auf den Schrecken gefolgt war, stolperte er die Stiege nach unten, löschte die Fackel, steckte sie wieder in den Ölkrug und warf sich auf seine raue Matte. Er musste sich ein bisschen ausruhen. Und dann musste er vorbei an den Kheftiu durch die Straßen und vielleicht an Bord eines Nilschiffes schleichen, das am Morgen nach Memphis oder nach Abydos fuhr. Eine ganze Weile später ließ ihn ein Geräusch auffahren.
    Er hatte geschlafen. Er musste hier weg! Jetzt! Gleich! Er sprang auf – und erstarrte. Aus Gebus Zimmer drang gedämpftes Krachen, gefolgt von einem Schwall von Flüchen. Gebu war zu Hause, er hatte das Siegel gesehen. Es war zu spät.
    Er rannte zum Tor, machte aber gleich wieder kehrt, als er hörte, wie die Tür gegen die Wand schlug. Aus vollem Halse fluchend polterte Gebu über den Stiegenabsatz, stolperte und fiel halb die Stiege hinunter. Er war stockbetrunken. Ranofer kauerte sich in der dunkelsten Ecke des Hofes zusammen; am liebsten hätte er sich in Luft aufgelöst. Aus dem Nachbarhaus ertönte eine wütende, verschlafene Stimme: „Ruhe, du Schweinehund! Man kann ja kein Auge zumachen!“ Gebu fluchte laut lallend zurück. Ranofer drückte sich dichter an die Mauer. Gebus Schendjti schimmerte im Mondlicht; er torkelte über den Hof in die Vorratskammern. Ranofer hörte das vertraute Scheppern des Bechers, der gegen den Wasserkrug schlug, dann ging das Tongefäß klirrend zu Bruch. Gebu stand einen Moment lang schwankend in der Tür, wankte über den Hof und – oh Wunder! – taumelte die Stiege hinauf. Dann schlug die Tür mit einem lauten Knall zu.
    Ranofer war so verblüfft, dass er nur langsam begriff: Er war noch mal davongekommen. Gebu war viel zu betrunken, um auf das Siegel zu achten. Mit einem zitternden Seufzer atmete er aus. Er dankte den Göttern von ganzem Herzen für die Erfindung von Gerstenbier. Erleichtert löste er sich von der Mauer, ging zu seiner Matte und fiel geschwächt vor Müdigkeit, Schmerzen und Hunger auch gleich in einen erschöpften Schlaf.
    Am nächsten Morgen weckte ihn Gebu wie gewohnt mit einem groben Tritt in die Seite. „Los, aufstehen – und ab in die Werkstatt mit dir! Kauf dir unterwegs einen Fladen.“ Er warf eine Kupfermünze auf den Boden. Ranofer tastete nach der Münze. Er rieb sich die Augen und taumelte noch schlaftrunken über den Hof. In der Vorratskammer schüttete er sich kaltes Wasser ins Gesicht, um richtig wach zu werden. Versehentlich kam er mit der Hand an seine aufgeplatzte Lippe – da war doch was! Irgendetwas war passiert… Plötzlich war er hellwach, alles fiel ihm wieder ein: das Siegel, die Angst, der goldene Kelch. Letzte Nacht hatte er ganz andere Probleme gehabt als den Kelch. Nun aber konnte er nur noch daran denken.
    Er war jedoch so benommen vor lauter Hunger, dass er noch nicht ermessen konnte, was seine Entdeckung bedeutete. Er musste etwas essen. Er eilte die Straße zum Krummen Hund hinunter zur staubigen Hauptstraße, die im Schein des Sonnenaufgangs rosa leuchtete und schon gesprenkelt war mit den Schatten von Männern, die zur Arbeit hasteten.
    In der Nähe der Straße der Seiler sah er Kai, den Bäckerjungen, der mit einem voll beladenen Korb auf dem Kopf aus dem Laden kam. Ranofer rief ihm einen Gruß zu, Kai blieb stehen und nahm den Korb ab. „Das ist von gestern“, sagte er nur. „Macht nichts!“, gab Ranofer zurück. „Mein Hunger ist ja auch noch von gestern.“
    Er schnappte sich einen Fladen und gab Kai die Münze. Herzhaft biss er in die glänzende Kruste. „Nimm zwei! Wie gesagt, sie sind von gestern“, sagte Kai und gab Ranofer noch einen Fladen. Er wollte den Korb schon wieder auf den Kopf setzen, zögerte dann aber. „Oder nimm drei, das wird bestimmt niemand merken. Außerdem solltest du deine aufgeplatzte Lippe mit Nilwasser betupfen.“
    Mit mitleidigem Blick eilte Kai davon. Ranofer stopfte den dritten Fladen in sein Gürtelband; er würde ihn zu Mittag essen. Kauend schlenderte er zur Werkstatt. Dass ich den Kelch gefunden habe, ist das Größte, was mir jemals passiert ist, dachte Ranofer. Gebu wird kopfüber von der Palastmauer baumeln und ich werde frei sein! Aber das ist nur gerecht! Er hat einen Schatz aus dem Haus der Ewigkeit des Gottkönigs gestohlen. Ein ungeheuerliches Verbrechen!

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