Der goldene Kelch
Ich werde ihn anzeigen! Ich, Ranofer, Sohn des Thutra, werde die Tat bekannt machen, dann kommen die Soldaten des Königs und schnappen diesen Gebu! Er wird für immer verschwinden, er wird mich nie mehr schlagen. Ich werde frei sein, werde ihn vom Hals haben und nie wieder als Steinmetz arbeiten müssen. Das Leben wird schöner sein als ein Traum! Ganz Ägypten, ja der Pharao selbst wird mir danken. Er wird mich im Hof des Palastes empfangen und mich mit Ehrengold überschütten, wird mir goldene Ketten um den Hals legen, wird Blumen vor mir streuen lassen und er wird Djau sagen, dass er mich zum Schüler nehmen soll. Ich werde reich und glücklich sein und ich werde jeden Tag gebratene Gans essen. Ich muss Gebu nur anzeigen!
Aber da brach eine altbekannte Frage in seine Tagträume ein. Wie soll ich das anstellen? Soll ich den Kelch aus der Truhe nehmen und einem Soldaten zeigen? Dann würde ja ich des Diebstahls bezichtigt werden! Soll ich mich an einen Edelmann wenden oder um eine Audienz bei einem Priester des Amun bitten? Unmöglich! Ein unbedeutender Steinmetzjunge würde nicht viel weiter kommen als bis zur ersten Wache. Und selbst wenn es ihm gelänge, jemandem davon zu erzählen, wäre da immer noch Gebu. Wer würde einem Lehrjungen mehr glauben als dem Meister? Nein, nein, am Ende würde er, Ranofer, von der Palastmauer hängen. Es war immer dasselbe. So war es auch mit den Weinschläuchen. Es gab keine Antwort auf die Frage „Wie?“, es gab keine Lösung für dieses Problem.
Doch während er Bohrsand für Djahotep in die Löcher schüttete, kaute er an dieser Frage herum wie ein Hund an einem Knochen. Am Vormittag hatte er die Lösung, sie brach wie ein Sonnenstrahl durch seine Gedanken. Djau! Djau war im Palast bekannt. Die Soldaten würden ihm glauben. Aber würde Djau ihm glauben? Ranofer war sich da nicht so sicher. Djau würde ihm bestimmt erst glauben, wenn er den Kelch als Beweis in Händen hielt! Er musste also zuerst den Kelch aus der Truhe holen… „Sand, Junge, Sand!“, brummte Djahotep ungeduldig. „Dieser Bohrer ist doch kein Spielzeug! Wenn Pai uns hier trödeln sieht!“
Ranofer schüttete schnell ein Quäntchen Sand ins Loch. Djahotep setzte grummelnd den Bohrer an. „Wenn der Meister hier wäre, würdest du nicht träumen!“
Wo war der Meister eigentlich?, fragte sich Ranofer, als er vor dem zerstiebenden Sand zurückwich. Gebu war noch nicht erscheinen, dabei kam er in letzter Zeit immer ganz früh in die Werkstatt und blieb fast den ganzen Tag. Wenn Gebu vor Mittag nicht käme, könnte er problemlos in der Pause nach Hause laufen und den Kelch holen.
Gebu kam nicht. Nervös wartete Ranofer ein paar Minuten ab, dann schlenderte er aus dem Schuppen. Als er außer Sichtweite war, begann er zu laufen wie ein Hase. Er schreckte zwar vor dem Gedanken zurück, schon wieder das Siegel brechen zu müssen und es in nervenaufreibender Kleinarbeit wieder zu reparieren, aber das ging nun mal nicht anders.
Atemlos kam er am Hoftor an und presste sein Ohr dagegen. Alles war ruhig. Er trat vorsichtig ein, tappte über den leeren Hof und horchte wieder. Leise wie ein Geist huschte er die Stiege hinauf. Er sah gleich, dass Gebu nicht da war, denn die Tür war von außen verriegelt. Aber sie war nicht versiegelt – die Götter waren mit ihm! Einen Augenblick später wühlte er schon fieberhaft in der Truhe. Der Kelch war weg.
Wieder einmal waren all seine Hoffnungen auf einen Schlag zunichte gemacht. Ganz benommen schleppte er sich zur Werkstatt zurück. Er war so sicher gewesen, dass der Kelch in der Truhe war; er konnte ihn fast in der Hand spüren. Wo war der Kelch? War er etwa in einem Schmelztiegel gelandet? Dieser Gedanke machte ihn ganz krank. War er vielleicht in einem Ballen Leinenstoff verschwunden, auf einem Schiff, das nilabwärts fuhr – vielleicht Setmas Schiff –, um in einer Stadt flussabwärts, auf Kreta, in Phönizien oder Mykene verkauft zu werden? So oder so würde er den Kelch nie mehr wieder sehen und Gebu würde bald wieder mit einer neuen Errungenschaft, vielleicht einem goldenen Armband, durch die Stadt stolzieren.
Seine Beine führten ihn von selbst am Weg vorbei, der zwischen den Blumenfeldern zum Fluss führte. Er konnte an nichts anderes denken als an den Kelch und er war so verzweifelt, dass er den Alten im ersten Moment gar nicht sah, der den Weg heraufkam und plötzlich vor ihm stand. Ranofer starrte ihn an. Er wollte nur noch weg. Er konnte niemandem von
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