Der goldene Kelch
ihre hilflosen Bewohner, die immer noch in der Gefahr waren, aus den Sarkophagen gerissen und aus ihren Mumienbinden gewickelt zu werden, stieg wieder in ihm auf.
Eine neue Welle des Zorns spülte seine Bedenken weg. Er rannte die verlassene Straße hinunter und zwang sich, an nichts anderes zu denken, als die Entfernung zu überbrücken, die ihn von seinem Ziel trennte. Schließlich stand er atemlos vor der Palastmauer. Er starrte sie an und sagte sich: Wenn ich denn sterben muss, so soll es sein; dann sterbe ich jetzt, hier, sofort. Gebus Hilfe brauche ich dazu nicht! Aber bevor ich sterbe, werde ich hinausschreien, was ich weiß!
Er verwarf den Gedanken, die Palastanlage durchs Hohe Tor betreten zu wollen, und rannte an der Mauer entlang in die entgegengesetzte Richtung, bis er eine hohe Palme vor der Mauer sah. Er betrachtete den Baum genau, stieg dann wie eine Katze den rauen Stamm hinauf, hangelte sich auf einem schwankenden Wedel hinüber und sprang auf die Mauer. Unter ihm war ein Hof mit Schuppen und Ställen, er sah drei zweirädrige Wagen, die vor Gold nur so funkelten, und ein Dutzend Stallburschen, die die Pferde mit Federn und Blumen für die Prozession schmückten. Kein Bursche sah auf. Ranofer duckte sich und kroch auf der Mauer zum nächsten Hof. Dort befanden sich die Werkstätten der Hofweber, Hofkorbmacher, Hoftöpfer und Hofbäcker; niemand war zu sehen. Ranofer horchte, aber er hörte auch keine Geräusche aus den Schuppen. Das war die geeignete Stelle, um hineinzugelangen. Er schluckte zögernd, bevor er aufs Dach eines Schuppens und von dort auf den Boden sprang. Sein Herz klopfte so stark, dass er sicher war, man müsste ihn hören. Er sah sich schnell um und rannte über den Hof zu einem Tor, das ihn, so schien es ihm, näher zum Palast führen würde. Plötzlich schrie jemand hinter ihm: „He, halt! Wer ist da? Stehen bleiben, sage ich!“ Ohne sich umzudrehen, flitzte Ranofer zum Tor und zog es auf. Im nächsten Augenblick stand er schon in einer Küche unter freiem Himmel, gerupftes Geflügel hing an Haken, der Duft von frisch gebackenem Brot erfüllte die Luft und es wimmelte von Köchen und Küchensklaven, die an den vielen Öfen arbeiteten. Vor Angst hielt er den Atem an und stürzte ungeachtet der erschreckten Aufschreie und der Hände, die nach ihm fassen wollten, quer durch die Küche. „Haltet ihn! Haltet ihn!“, brüllte es wieder.
Ein Dutzend schreiender Köche war hinter Ranofer her, der aber schon die nächste Rebe an der Hofmauer erreicht hatte und hinaufkletterte. Er sprang über die Mauer und landete im Küchengarten. Seine Verfolger kamen schon hinter ihm durch ein Tor. Er rannte über einen Weg mit rosa Kieseln zwischen Zwiebel- und Bohnenbeeten direkt in einen Laubengang aus Reben. Er keuchte und stolperte, er wusste nicht mehr wohin, er hatte die Orientierung verloren, die Schreie ertönten nun von allen Seiten. Nirgends eine Mauer, über die er klettern, nirgends ein Ort, wo er sich hätte verstecken können, nirgends ein Ausweg. Er wusste weder, auf welcher Seite der Palast lag, noch von welcher Seite er gekommen war. Er raste auf eine Hecke zu und schlug einen Haken, da sah er aber schon, wie ein stämmiger Gärtner direkt auf ihn zulief. Ranofer machte einen Satz und landete in der dichten Hecke. Als er sich durchgeschlängelt hatte, war er voller Kratzer und Schürfwunden, sein Schurz war völlig zerfetzt. Erschöpft fiel er auf das weiche Gras. Er wollte sich wieder aufrappeln, da wurde er schon an Händen und Füßen gepackt. „Da haben wird dich, du Lump!“, keuchte jemand über ihm.
Der Gärtner und ein Sklave mit struppigem Haar hielten ihn fest und starrten ihn an. Hinter den beiden Männern konnte er einen Rasen sehen und Schatten spendende Bäume, einen blauen Teich mit Lotosblüten, eine Laube zwischen Blumenbeeten und ein paar Menschen, die in seine Richtung schauten. Ein Soldat löste sich aus der Gruppe und kam mit gezogenem Säbel auf ihn zu. Ranofer wand sich im Griff der Männer, er wollte etwas sagen, aber er konnte nur nach Luft schnappen. „Bei den Haaren der Bastet! Das ist ja noch ein Kind!“, rief der Sklave. „He, du, was hast du hier verloren? Sprich!“
„Das Grab!“, krächzte Ranofer. „Ich muss Königin Teje warnen!“
Eine harte Hand schlug ihm ins Gesicht. „Unverschämter Kerl!“, brüllte der Gärtner. „Was erlaubst du dir, den Namen der Tochter der Sonne in den Mund zu nehmen?“
„Ich sag doch, ich muss sie
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