Der Goldene Kompass
begann das dicke Mädchen.
»Erzähl ihr das nicht!« sagte die Rothaarige. »Noch nicht.«
»Gibt es denn hier auch Jungen?« fragte Lyra.
»Ja. Wir sind ziemlich viele. Ungefähr dreißig, schätze ich.«
»Mehr«, sagte das dicke Mädchen. »Eher vierzig.«
»Aber sie bringen ständig welche weg«, sagte die Rothaarige. »Meistens bringen sie zuerst einen ganzen Haufen hierher, dann sind wir ziemlich viele, und dann verschwindet einer nach dem anderen wieder.«
»Das sind Gobbler«, sagte das dicke Mädchen. »Du kennst doch bestimmt die Gobbler. Wir hatten alle Angst vor denen, und jetzt haben sie uns gefangen…«
Lyra wurde immer wacher. Die Dæmonen der Mädchen saßen, von dem Kaninchen abgesehen, in der Nähe der Tür und horchten. Es wurde nur geflüstert. Lyra fragte sie nach ihren Namen. Das rothaarige Mädchen hieß Annie, das dunkelhaarige, dicke Bella und das unscheinbare Martha. Die Namen der meisten Jungen kannten sie nicht, denn sie hielten sich hauptsächlich woanders auf.
Die Kinder wurden nicht schlecht behandelt.
»Ist gar nicht so übel hier«, meinte Bella. »Es gibt nicht viel zu
tun, außer wenn wir untersucht werden oder Gymnastik machen müssen oder wenn sie Staub und Fieber und so was messen. Eigentlich ist es nur langweilig.«
»Außer wenn Mrs. Coulter kommt«, sagte Annie.
Lyra unterdrückte einen Schrei, und Pantalaimon flatterte so heftig mit den Flügeln, daß die anderen Mädchen ihn mißtrauisch ansahen.
»Er ist nervös«, sagte Lyra und beruhigte ihn. »Die haben uns anscheinend wirklich Schlaftabletten gegeben, wie ihr gesagt habt, wir sind jedenfalls ganz beduselt. Wer ist denn Mrs. Coulter?«
»Sie hat uns in die Falle gelockt, jedenfalls die meisten von uns«, sagte Martha. »Alle Kinder sprechen von ihr. Wenn sie kommt, weiß jeder, daß wieder welche verschwinden.«
»Es macht ihr Spaß, die Kinder zu beobachten, wenn einer von uns weggebracht wird; sie sieht sich gern an, was die hier mit uns anstellen. Dieser Simon glaubt, daß sie uns umbringen und daß Mrs. Coulter dabei zuschaut.«
»Sie bringen uns um?« fragte Lyra und schauderte.
»Bestimmt. Denn keiner kommt wieder.«
»Mit den Dæmonen wird dasselbe gemacht«, sagte Bella. »Sie werden gewogen und gemessen und…«
»Sie fassen eure Dæmonen an?«
»Nein! Gott, nein! Sie holen eine Waage, und dein Dæmon muß sich draufstellen und die Gestalt wechseln, und davon machen sie dann Notizen und Fotos. Und dann stecken sie dich in so einen komischen Schrank und messen Staub. Immer und ewig messen sie Staub.«
»Was für Staub?« fragte Lyra.
»Keine Ahnung«, antwortete Annie. »Irgendwas aus dem Weltraum. Jedenfalls kein richtiger Staub. Wenn sie keinen Staub an einem messen, ist das gut. Aber zuletzt kriegt jeder Staub ab.«
»Wißt ihr, was ich von Simon gehört habe?« sagte Bella. »Er hat gesagt, daß die Tataren Löcher in ihre Schädel bohren, um den Staub hineinzulassen.«
»Ja, gerade der wird das wissen«, sagte Annie verächtlich. »Ich
glaube, ich frage Mrs. Coulter, wenn sie kommt.«
»Das traust du dich nicht!« sagte Martha bewundernd.
»Doch.«
»Wann kommt sie denn?« fragte Lyra.
»Übermorgen«, sagte Annie.
Lyra lief es vor Entsetzen kalt den Rücken hinunter, und Pantalaimon kroch ganz dicht an sie heran. Ihr blieb nur ein einziger Tag, um Roger zu finden und soviel wie möglich über diesen Ort herauszubekommen, ein Tag, um zu fliehen oder gerettet zu werden. Und wer würde den Kindern helfen, in der eisigen Wildnis zu überleben, wenn alle Gypter getötet worden waren?
Die anderen Mädchen unterhielten sich weiter, während Lyra und Pantalaimon sich unter der Bettdecke aneinanderkuschelten und gegenseitig zu wärmen versuchten. Sie wußten, daß im Umkreis von Hunderten von Meilen die Angst regierte.
Die Dæmonenkäfige
Lyra neigte nicht zum Grübeln. Sie war ein optimistisches und praktisch veranlagtes Kind und hatte außerdem nicht besonders viel Phantasie. Kein Kind mit Phantasie hätte es ernsthaft für möglich gehalten, daß es den weiten Weg hierher finden und seinen Freund Roger befreien könnte, oder es hätte sich zumindest die verschiedensten Einwände ausgemalt. Ein geübter Lügner zu sein bedeutet noch lange nicht, daß man auch viel Phantasie hat. Viele gute Lügner haben überhaupt keine Phantasie, und das macht ihre Lügen so überzeugend.
Deshalb wurde Lyra nun, da sie in die Hände der OblationsBehörde geraten war, auch nicht von
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