Der Goldene Kompass
panischer Angst über das Schicksal der Gypter gequält. Die Gypter waren alle gute Kämpfer, und auch wenn Pantalaimon gesehen haben wollte, daß John Faa niedergeschossen worden war, konnte er sich ebensogut geirrt haben, oder vielleicht war John Faa nicht ernsthaft verletzt worden. Daß sie den samojedischen Jägern in die Hände gefallen war, war Pech gewesen, aber die Gypter würden schon bald dasein, um sie zu befreien, und falls sie es wider Erwarten nicht schafften, würde Iorek Byrnison alles dransetzen, sie hier herauszuholen. Und dann würden sie im Ballon von Lee Scoresby nach Svalbard fliegen und Lord Asriel retten.
So einfach stellte sie es sich wenigstens vor.
Deshalb war sie, als sie am nächsten Morgen im Schlafsaal
erwachte, neugierig und bereit, es mit allem aufzunehmen, was der Tag bringen würde. Sie konnte es kaum erwarten, Roger zu sehen — vor allem wollte sie ihn sehen, bevor er sie sah.
Lyra mußte sich nicht lange gedulden. Um halb acht wurden die Kinder in den verschiedenen Schlafsälen von den für sie zuständigen Schwestern geweckt. Sie wuschen sich, zogen sich an und gingen dann mit den anderen zum Frühstück in die Kantine.
Und dort war Roger.
Er saß mit fünf anderen Jungen an einem Tisch gleich an der Tür. Die Schlange zur Durchreiche führte direkt an ihnen vorbei, und Lyra tat so, als sei ihr ein Taschentuch hinuntergefallen und als müsse sie sich danach bücken. Dabei kam sie Rogers Stuhl so nah, daß Pantalaimon mit Rogers Dæmon Salcilia sprechen konnte.
Salcilia, ein Buchfink, flatterte so aufgeregt, als er Pantalaimon sah, daß Pantalaimon sich in Gestalt einer Katze auf ihn stürzen und ihn zu Boden drücken mußte, damit er ihm etwas zuflüstern konnte. Solche Rangeleien zwischen Dæmonen von Kindern waren glücklicherweise nichts Ungewöhnliches, deshalb achtete auch niemand besonders darauf, nur Roger wurde plötzlich bleich. Lyra hatte noch nie jemanden so weiß werden sehen. Er sah auf und begegnete ihrem hochmütig starren Blick, und dann strömte die Farbe in seine Wangen zurück, als sein Herz vor Hoffnung, Aufregung und Freude überfloß. Hätte Pantalaimon Salcilia nicht so energisch geschüttelt, Roger wäre mit einem Schrei aufgesprungen, um die Spielkameradin aus Jordan zu begrüßen.
Mit größtmöglicher Verachtung sah Lyra weg und verdrehte vor ihren neuen Freundinnen abschätzig die Augen. Sie überließ es Pantalaimon, Salcilia alles zu erklären. Die vier Mädchen nahmen ihre Tabletts mit Cornflakes und Toast und setzten sich zusammen an einen Tisch, abseits von den anderen, um ungestört über diese tratschen zu können.
Eine große Kinderschar an einem Ort muß pausenlos beschäftigt werden, deshalb ähnelte Bolvangar in mancher Hinsicht einer Schule mit Stundenplänen für Fächer wie Turnen und ›Kunst‹. Außer in den Pausen und bei den Mahlzeiten waren Jungen und Mädchen getrennt, so daß Lyra erst in der zweiten Hälfte des Vormittags, nach anderthalbstündigem Nähunterricht bei einer der Schwestern, Gelegenheit hatte, mit Roger zu sprechen. Die Schwierigkeit bestand allerdings darin, daß es ganz natürlich aussehen mußte. Die Kinder waren alle mehr oder weniger in dem Alter, in dem Jungen nur mit Jungen und Mädchen nur mit Mädchen sprechen und jeder sich auffallende Mühe gibt, das andere Geschlecht zu übersehen.
Die Gelegenheit bot sich wieder in der Kantine, als die Kinder sich dort zu einem kleinen Imbiß versammelten. Lyra schickte Pantalaimon als Fliege los, damit er an der Wand neben ihrem Tisch mit Salcilia sprach, während sie und Roger unauffällig bei ihren jeweiligen Freundinnen und Freunden saßen und ihre Milch schlürften. Weil es schwierig war, sich zu unterhalten, solange die Aufmerksamkeit des Dæmons auf etwas anderes gerichtet war, machte Lyra ein mürrisches und rebellisches Gesicht. Mit ihren Gedanken war sie halb bei dem leisen Gesumm der beiden Dæmonen, und sie hörte dem Gespräch der Mädchen kaum zu, als plötzlich eines mit auffallend hellblonden Haaren einen Namen erwähnte, der sie hochfahren ließ.
Es war der Name von Tony Makarios. Als Lyras Aufmerksamkeit abgelenkt wurde, erstarb Pantalaimons Flüstern mit Rogers Dæmon, und die beiden Kinder lauschten dem blonden Mädchen.
Aufgeregt steckten alle die Köpfe zusammen.
»Nein, ich weiß, warum sie ihn weggebracht haben«, sagte das Mädchen. »Sein Dæmon hat sich nämlich nicht verwandelt. Sie hielten ihn für älter, als er aussah oder
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