Der Goldene Kompass
behauptete, und glaubten, er sei in Wirklichkeit gar kein kleines Kind mehr. Aber sein Dæmon hat sich deshalb nicht besonders oft verwandelt, weil sich Tony nie viel Gedanken über irgendwas gemacht hat. Ich habe mal gesehen, wie er sich verwandelt hat. Er hieß Ratter…«
»Warum interessieren die Leute hier sich so für Dæmonen?« fragte Lyra.
»Das weiß keiner«, antwortete das blonde Mädchen.
»Doch, ich weiß es«, sagte ein Junge, der zugehört hatte. »Sie töten deinen Dæmon, um festzustellen, ob du dann auch stirbst.«
»Aber warum machen sie das mit so vielen verschiedenen Kindern?« fragte jemand. »Dann würde doch eigentlich einmal reichen, oder?«
»Ich weiß, was sie machen«, sagte das Mädchen.
Alle sahen sie an. Aber weil sie nicht wollten, daß das Personal merkte, worüber sie sich unterhielten, wandten sie sich gleich wieder ab und taten gleichgültig und desinteressiert, während sie wie gebannt lauschten.
»Woher?« fragte jemand.
»Weil ich bei ihm war, als sie ihn abholten. Wir waren in der Wäschekammer.«
Sie lief dunkelrot an. Aber die höhnischen Bemerkungen oder Hänseleien, die sie vielleicht erwartet hatte, blieben aus. Die Kinder waren still und grinsten nicht einmal.
»Wir waren ganz leise«, fuhr das Mädchen fort, »und dann kam auf einmal die Schwester rein, die mit der sanften Stimme, und sagte: ›Komm mit, Tony, ich weiß, daß du hier bist. Komm mit, wir tun dir nicht weh…‹ Und er fragte: ›Was tun sie denn mit mir?‹ Und sie sagte: ›Du darfst ein bißchen schlafen, und wir machen eine kleine Operation, und dann wachst du gesund und munter wieder au£‹ Aber Tony glaubte ihr nicht. Er sagte…«
»Die Löcher!« sagte jemand. »Ich wette, die machen einem ein Loch in den Kopf wie die Tataren!«
»Sei still! Was hat die Schwester noch gesagt?« sagte jemand anders. Inzwischen drängten sich ein gutes Dutzend wißbegieriger Kinder mit ihren nicht weniger neugierigen Dæmonen um den Tisch des Mädchens und lauschten gespannt und mit aufgerissenen Augen.
»Tony wollte wissen, was sie mit Ratter vorhatten«, sagte das Mädchen. »Die Schwester sagte: ›Er schläft auch, genau wie du.‹ Und dann sagte Tony: ›Sie wollen ihn töten, stimmt’s? Ich weiß es. Das wissen wir doch alle.‹ Und die Schwester sagte: ›Nein, das ist nicht wahr. Es ist nur eine kleine Operation, ein kleiner Schnitt. Es tut nicht einmal weh. Daß wir dich dabei schlafen lassen, ist nur eine Vorsichtsmaßnahmen«
Im ganzen Raum herrschte jetzt Totenstille. Die aufsichtführende Schwester war kurz hinausgegangen, und die Durchreiche zur Küche war geschlossen, so daß auch dort niemand etwas hören konnte.
»Was denn für ein Schnitt?« fragte ein Junge mit leiser, ängstlicher Stimme. »Hat sie das gesagt?«
»Sie hat nur gesagt, daß man davon schneller erwachsen würde. Und daß es bei jedem gemacht werden müßte und daß sich deswegen die Dæmonen von Erwachsenen nicht mehr verwandeln wie unsere. Also mit dem Schnitt kriegen sie hin, daß die Dæmonen für immer dieselbe Form behalten, und so wird man dann erwachsen.«
»Aber…«
»Heißt das…«
»Wie? Haben alle Erwachsenen so einen Schnitt machen lassen?«
»Was ist mit…«
Plötzlich brachen die Stimmen ab, als wären auch sie abgeschnitten worden, und alle Augen richteten sich auf die Tür. Dort stand Schwester Clara, sanft und freundlich und sachlich, und neben ihr ein Mann in einem weißen Kittel, den Lyra noch nicht gesehen hatte.
»Bridget McGinn«, rief er.
Das blonde Mädchen stand zitternd auf. Sein Eichhörnchendæmon krallte sich an seine Brust.
»Ja, Sir?« fragte sie mit kaum hörbarer Stimme.
»Trink aus und begleite Schwester Clara«, sagte er. »Ihr anderen geht in eure Klassen.«
Gehorsam stapelten die Kinder ihre Becher auf dem Teewagen aus rostfreiem Stahl und gingen schweigend hinaus. Keiner außer Lyra sah Bridget an, und nur Lyra bemerkte die panische Angst im Gesicht des blonden Mädchens.
Den restlichen Vormittag verbrachten sie beim Sport. Da Sport im Freien während der langen Polarnacht unmöglich war, gab es in der Station eine kleine Turnhalle, in der die verschiedenen Kindergruppen unter Aufsicht einer Schwester abwechselnd spielten. Sie mußten Mannschaften bilden und Ball spielen, und Lyra, die das noch nie in ihrem Leben getan hatte, wußte zunächst weder aus noch ein. Aber weil sie flink und sportlich und eine geborene Anführerin war, machte ihr das Spiel schon bald
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