Der Goldene Kompass
gewöhnt, oder man wird verrückt.
Pantalaimon, der sich in einen Goldfink verwandelt hatte, flüsterte Lyra ins Ohr: »Stell dich ganz dumm. Tu so, als ob du überhaupt nichts kapierst.«
Drei Erwachsene blickten zu ihr herunter: der Mann, der sie hereingebracht hatte, ein Mann in einem weißen Kittel und eine Frau in Schwesterntracht.
»Engländer«, sagte der erste Mann. »Anscheinend Händler.«
»Dieselben Jäger wie sonst? Dieselbe Geschichte?«
»Vom selben Stamm, soweit ich das beurteilen kann. Schwester Clara, würden Sie die kleine… ähm, mitnehmen und sich um sie kümmern?«
»Natürlich, Doktor. Komm mit, Schatz«, sagte die Schwester. Gehorsam folgte Lyra.
Sie gingen einen kurzen Flur entlang, mit Türen auf der rechten Seite und einer Kantine auf der linken, aus der Besteckklappern, Stimmen und Essensgerüche drangen. Die Schwester mußte etwa genauso alt sein wie Mrs. Coulter, schätzte Lyra. Sie hatte ein munteres und verständiges, aber nichtssagendes Gesicht, konnte bestimmt eine Wunde nähen oder einen Verband wechseln, aber sicher keine Geschichten erzählen. Ihr Dæmon, ein weißes Hündchen, trottete brav hinter ihr her; Lyra fröstelte bei seinem Anblick kurz, doch schon einen Moment später wußte sie nicht mehr, weshalb eigentlich.
»Wie heißt du denn, Schatz?« fragte die Schwester und öffnete eine schwere Tür.
»Lizzie.«
»Nur Lizzie?«
»Lizzie Brooks.«
»Und wie alt bist du?«
»Elf.«
Lyra hatte schon oft gehört, sie sei klein für ihr Alter, was auch immer das heißen mochte. Ihr Selbstbewußtsein hatte das nie erschüttert, und jetzt erkannte sie, daß diese Tatsache ihr helfen würde, sich in ein schüchternes, aufgeregtes und unscheinbares Mädchen zu verwandeln. Als sie das Zimmer betrat, machte sie sich deshalb noch etwas kleiner.
Eigentlich hatte sie erwartet, daß Schwester Clara sie fragen würde, woher sie kam und wer sie gebracht hatte, und sich schon passende Antworten zurechtgelegt. Aber der Schwester fehlte es offenbar nicht nur an Phantasie, sondern auch an jeglicher Neugier. Sie war so desinteressiert, daß man hätte meinen können, Bolvangar läge am Stadtrand von London und nichts sei selbstverständlicher, als daß die ganze Zeit Kinder ankamen. Und genauso munter und teilnahmslos wie sie war auch ihr geschniegelter kleiner Dæmon, der ihr auf den Fersen folgte.
In dem Zimmer, das sie betreten hatten, befanden sich eine Couch, ein Tisch, zwei Stühle, ein Aktenschrank, ein Glasschrank mit Medikamenten und Binden und ein Waschbecken. Die Schwester zog Lyra sofort den Anorak aus und ließ ihn auf den glänzenden Fußboden fallen.
»Runter mit den restlichen Sachen, Schatz«, sagte sie. »Jetzt untersuchen wir dich kurz, damit wir auch sicher sind, daß du richtig gesund bist und weder Frostbeulen noch eine laufende Nase hast, und dann sehen wir mal, ob wir ein paar schöne, saubere Sachen zum Anziehen für dich finden. Und vorher stecken wir dich noch unter die Dusche«, fügte sie hinzu, denn Lyra hatte ihre Kleider seit Tagen nicht gewechselt und sich nicht gewaschen, was in der Wärme, die sie jetzt umgab, immer offensichtlicher wurde.
Pantalaimon begehrte flatternd auf, aber Lyra unterdrückte seinen Protest mit einer Grimasse. Er ließ sich auf der Couch nieder, während Lyra ein Kleidungsstück nach dem anderen ausziehen mußte, sehr zu ihrem Ärger und ihrer Scham. Immerhin war sie so geistesgegenwärtig, das zu verbergen. Sie gehorchte willig und stellte sich weiter begriffsstutzig.
»Jetzt noch den Gürtel mit dem Geld, Lizzie«, sagte die Schwester und öffnete ihn mit energischen Fingern. Sie wollte ihn schon auf den Haufen mit Lyras anderen Sachen werfen, als sie die Kante des Alethiometers spürte und innehielt.
»Was ist denn das?« fragte sie und knöpfte den Beutel aus Ölzeug auf.
»Nur ein Spielzeug«, antwortete Lyra. »Es gehört mir.«
»Wir wollen es dir ja auch gar nicht wegnehmen, Schatz«, sagte Schwester Clara und faltete den schwarzen Samt auseinander. »Ach, ist das hübsch, wie ein Kompaß. Aber jetzt unter die Dusche mit dir.« Sie schlug einen Vorhang aus Kohleseide in der Ecke zurück.
Widerwillig schlüpfte Lyra unter den warmen Wasserstrahl und seifte sich ein. Pantalaimon hockte währenddessen auf der Vorhangstange. Sie wußten beide, daß Pantalaimon nicht zu lebhaft wirken durfte, denn die Dæmonen von begriffsstutzigen Leuten sind ebenfalls etwas schwer von Begriff. Als Lyra sauber und trocken war,
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