Der Goldene Kompass
es. Streck die Finger aus. Gut so.«
»Was messen Sie eigentlich?« fragte Lyra. »Staub?«
»Wer hat dir denn das gesagt?«
»Eins von den anderen Mädchen, ich weiß nicht, wie sie heißt. Sie hat gesagt, wir wären alle voller Staub. Aber ich bin nicht staubig, jedenfalls glaub ich das nicht. Ich hab erst gestern geduscht.«
»Aber das ist eine andere Art von Staub. Mit den Augen kannst du ihn nicht sehen. Es ist ein besonderer Staub. Jetzt mach eine Faust — genau so. Gut. Wenn du da drin herumtastest, findest du eine Art Griff – hast du ihn? Halte ihn fest, so ist es brav. Und jetzt lege deine andere Hand hier drauf— auf diese Messingkugel. Gut. Ausgezeichnet. Jetzt spürst du gleich ein leichtes Kribbeln, nichts Schlimmes, nur eine kleine anbarische Spannung…«
Pantalaimon strich, aufs äußerste gespannt und wachsam, in Gestalt einer Wildkatze mit mißtrauisch gehetztem Blick um den Apparat. Zwischendurch kehrte er immer wieder zu Lyra zurück, um sich an ihr zu reiben.
Sie war mittlerweile überzeugt, daß die Operation jetzt noch nicht an ihr vorgenommen würde und daß ihre Tarnung als Lizzie Brooks sicher war. Deshalb riskierte sie eine Frage.
»Wieso schneiden Sie den Menschen die Dæmonen ab?«
»Was? Wer hat dir denn das erzählt?«
»Das Mädchen, dessen Namen ich nicht weiß. Sie hat gesagt, Sie würden den Menschen die Dæmonen abschneiden.«
»Unsinn…«
Er war jedoch ziemlich erregt.
»Weil Sie ein Kind nach dem anderen wegbringen und nie eins zurückkommt«, fuhr Lyra fort. »Einige sagen, daß Sie sie einfach töten, und andere sagen etwas anderes, und dieses Mädchen sagte, Sie schneiden…«
»Das stimmt überhaupt nicht. Wenn wir Kinder fortbringen, dann nur deshalb, weil es Zeit für sie ist, woanders hinzugehen. Sie werden erwachsen. Deine Freundin regt sich leider ganz unbegründet auf. Nichts davon ist wahr! Denk gar nicht darüber nach. Wer ist denn deine Freundin?«
»Ich bin erst gestern angekommen und kenne noch niemand beim Namen.«
»Wie sieht sie denn aus?«
»Hab ich vergessen. Ich glaube, sie hatte braune Haare… hellbraune vielleicht… keine Ahnung.«
Der Arzt besprach leise etwas mit der Schwester. Während die beiden berieten, beobachtete Lyra ihre Dæmonen. Die Schwester hatte einen hübschen Vogel, der genauso gepflegt und teilnahmslos wirkte wie Schwester Claras Hund, und der Dæmon des Arztes war eine große, dicke Motte. Keiner von beiden rührte sich. Sie waren zwar wach, denn die Augen des Vogels glänzten und die Fühler der Motte bewegten sich träge, aber sie waren nicht so lebendig, wie Lyra eigentlich erwartet hätte. Sie schienen beide weder Sorge noch Neugier zu kennen.
Kurz darauf kam der Arzt zurück, und sie setzten die Untersuchung fort: Lyra und Pantalaimon wurden einzeln gewogen, dann wurde Lyra hinter einem speziellen Wandschirm untersucht, ihr Puls wurde gemessen, und schließlich wurde sie unter eine Meine Düse gestellt, aus der es zischte und ein Geruch nach frischer Luft kam.
Mitten in einer dieser Untersuchungen begann plötzlich eine Klingel zu schrillen. Das Klingeln hörte nicht mehr auf. »Der Feueralarm«, sagte der Arzt seufzend. »Also schön, Lizzie, dann geh mit Schwester Betty.«
»Aber ihre warmen Sachen sind alle unten im Schlafsaal. So kann sie nicht raus. Finden Sie nicht, wir sollten zuerst hinuntergehen?«
Der Arzt war verärgert, weil er seine Experimente hatte unterbrechen müssen, und schnippte wütend mit den Fingern.
»Vermutlich sollen genau solche Dinge bei der Übung aufgedeckt werden«, sagte er. »Wie ärgerlich!«
»Als ich gestern ankam«, sagte Lyra hilfsbereit, »hat Schwester Clara meine anderen Sachen in einen Schrank in dem Zimmer gelegt, in dem sie mich untersucht hat. Das Zimmer nebenan. Die könnte ich doch anziehen.«
»Eine gute Idee!« sagte die Schwester. »Also dann, schnell.«
Innerlich jubelnd eilte Lyra der Schwester nach, holte ihre eigenen Pelze, Gamaschen und Stiefel aus dem Schrank und zog sie rasch an, während die Schwester in einen Anorak aus Kohleseide schlüpfte.
Dann hasteten sie hinaus. Auf dem weiten Platz vor den Hauptgebäuden befanden sich schon etwa hundert Erwachsene und Kinder; einige waren aufgeregt, andere ärgerlich und viele einfach nur verwirrt.
»Sehen Sie?« sagte gerade ein Erwachsener. »Eine solche Übung lohnt sich schon allein deshalb, weil sie uns zeigt, was für ein Chaos bei einem wirklichen Feuer ausbrechen würde.«
Jemand blies in eine
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