Der Goldene Kompass
Trillerpfeife und fuchtelte mit den Armen, aber niemand beachtete ihn. Lyra sah Roger und winkte ihn zu sich. Roger hakte Billy Costa unter, und bald liefen sie zu dritt durch das Gewühl der anderen Kinder.
»Keiner merkt, wenn wir uns ein wenig umsehen«, sagte Lyra. »Sie brauchen eine Ewigkeit, um alle zu zählen, und wir sagen einfach, wir wären hinter jemand anders hergelaufen und hätten uns verirrt.«
Sie warteten, bis die Erwachsenen in die andere Richtung sahen, dann kratzte Lyra mit den Händen etwas Schnee zusammen, klopfte ihn zu einem pulverigen Schneeball fest und schleuderte ihn aufs Geratewohl in die Menge. Im nächsten Augenblick taten alle Kinder dasselbe, und schon flogen lauter Schneebälle durch die Luft. Die Rufe, mit denen die Erwachsenen versuchten, die Ordnung wiederherzustellen, gingen in dem Gejohle völlig unter, und dann waren die drei Kinder auch schon um die Ecke verschwunden.
Wegen des hohen Schnees kamen sie zwar nur langsam voran, doch da ihnen niemand folgte, war das nicht weiter schlimm. Sie kletterten über das gewölbte Dach eines Tunnels und standen plötzlich in einer seltsamen Mondlandschaft aus regelmäßig geformten Buckeln und Mulden, die weiß verhüllt unter dem schwarzen Himmel lagen, nur beleuchtet vom Licht der Lampen um den großen Platz.
»Was suchen wir eigentlich?« fragte Billy.
»Keine Ahnung. Wir sehen uns einfach mal um«, sagte Lyra und ging voraus zu einem etwas abseits stehenden, niedrigen, quadratischen Gebäude, an dessen Ecke eine schwache anbarische Lampe brannte.
Der Tumult hinter ihnen war immer noch laut zu hören, kaum gedämpft durch die Entfernung. Die Kinder nutzten ihre Freiheit aus, und Lyra hoffte, sie würden es möglichst lange tun. Auf der Suche nach einem Fenster lief sie um das quadratische Gebäude herum. Das Haus war nur ungefähr zwei Meter hoch und im Unterschied zu den anderen Gebäuden nicht durch einen Tunnel mit der übrigen Station verbunden.
Es gab zwar kein Fenster, aber sie entdeckte eine Tür. Darüber stand in roten Buchstaben: EINTRITT STRENG VERBOTEN. Lyra wollte gerade ausprobieren, ob sich die Tür öffnen ließ, doch bevor sie noch die Klinke drücken konnte, rief Roger: »Seht mal! Ein Vogel! Oder…«
Seinem Oder waren deutliche Zweifel anzuhören, denn was da vom Himmel herabstieß, war gar kein Vogel. Lyra hatte dieses Wesen schon einmal gesehen.
»Der Dæmon der Hexe!«
Die Gans landete mit ausgebreiteten Schwingen inmitten einer Schneewolke.
»Sei gegrüßt, Lyra«, sagte sie. »Ich bin dir hierher gefolgt, auch wenn du mich nicht gesehen hast. Ich habe die ganze Zeit daraufgewartet, daß du ins Freie kommst. Was ist passiert?«
Rasch berichtete Lyra ihr alles. »Wo sind die Gypter?« fragte sie dann. »Ist John Faa verletzt? Konnten sie die Samojeden abwehren?«
»Den meisten geht es gut. John Faa wurde verwundet, allerdings nicht schwer. Die Männer, die dich entführt haben, waren Jäger, die oft Reisende überfallen und ausrauben, und sie sind allein natürlich schneller als eine große Gruppe. Die Gypter brauchen noch einen Tag, bis sie hier sind.«
Die beiden Jungen starrten den Gänsedæmon ängstlich an. Sie staunten, daß Lyra ihn so gut kannte, denn natürlich hatten sie nie zuvor einen Dæmon ohne seinen Menschen gesehen und wußten fast nichts über Hexen.
»Hört mal«, sagte Lyra zu ihnen, »haltet lieber Wache, ja? Billy, du gehst da rüber, und du, Roger, bewachst den Weg, den wir gekommen sind. Wir haben nicht viel Zeit.«
Die beiden rannten sofort los, und Lyra wandte sich wieder der Tür zu.
»Warum willst du da hinein?« fragte der Gänsedæmon.
»Weil an diesem Ort schreckliche Dinge geschehen. Sie schneiden nämlich« — Lyra senkte die Stimme — »sie schneiden
Menschen die Dæmonen ab. Den Kindern. Und vielleicht tun sie es hier drin. Jedenfalls ist hier etwas faul, und ich wollte nachsehen. Aber die Tür ist abgeschlossen…«
»Ich kann sie aufmachen«, sagte die Gans und schlug ein paarmal mit den Flügeln. Schnee wirbelte gegen die Tür, und Lyra hörte, wie sich im Schloß etwas drehte.
»Jetzt geh vorsichtig hinein«, sagte der Dæmon.
Lyra zog die Tür gegen den Widerstand des Schnees auf und schlüpfte hinein. Der Gänsedæmon folgte ihr. Pantalaimon zitterte vor Angst, weil er aber dem Dæmon der Hexe seine Angst nicht zeigen wollte, suchte er Zuflucht an Lyras Brust und versteckte sich in ihren Pelzen.
Sobald sich Lyras Augen an die Dunkelheit gewöhnt
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