Der Goldene Kompass
und mich zusammen mit anderen Kindern in einen Lieferwagen gesperrt und irgendwohin gebracht, in ein großes Gebäude, aber wo es war, weiß ich nicht.«
Mit jeder Sekunde, die verging, und mit jedem Satz, den sie sprach, spürte sie deutlicher, wie ihre Kräfte zurückkehrten. Was sie jetzt tat, war schwierig und vertraut zugleich und zudem unberechenbar — nämlich lügen. Es gab ihr eine gewisse Überlegenheit, dasselbe Gefühl der Kompetenz, das sie beim Lesen des Alethiometers empfand. Sie mußte aufpassen, daß sie nichts offensichtlich Unmögliches sagte; in manchen Dingen durfte sie sich nur vage ausdrücken, in anderen dagegen mußte sie glaubhafte Einzelheiten erfinden; kurzum, sie mußte ein Könner sein.
»Wie lange haben sie dich denn in dem Gebäude festgehalten?« fragte Mrs. Coulter.
Lyras Reise auf den Kanälen und ihr Aufenthalt bei den Gyptern hatten Wochen gedauert; für diese Zeit mußte sie sich etwas einfallen lassen. Sie erfand eine Reise mit den Gobblern nach Trollesund und dann eine Flucht, die sie mit allen Einzelheiten spickte, die sie von der Stadt noch in Erinnerung hatte; sie erzählte, daß sie in Einarssons Bar eine Zeitlang Mädchen für alles gewesen sei und danach eine Weile bei einer Bauernfamilie im Landesinnern gearbeitet habe, wo sie schließlich von den Samojeden gefangen und nach Bolvangar gebracht worden sei.
»Und vorhin wollten sie uns gerade — auseinander…«
»Pst, Liebes, pst! Ich werde schon herausfinden, was da passiert ist.«
»Aber warum wollten die das machen? Ich habe doch gar nichts Schlimmes getan! Alle Kinder haben Angst vor dem, was hier passiert, aber niemand weiß, was das ist. Aber es ist schrecklich. Schlimmer als alles… Warum tun die das, Mrs. Coulter? Wie können die so grausam sein?«
»Ist ja gut…Jetzt kann dir nichts mehr passieren, Liebes. Sie werden es nie wieder tun. Du bist doch jetzt bei mir und in Sicherheit, und du wirst nie wieder in Gefahr sein. Niemand wird dir etwas tun, Lyra, Liebling. Niemand wird dir jemals weh tun…«
»Aber sie machen es bei den anderen Kindern! Warum?«
»Ach, Liebes…«
»Wegen Staub, stimmt’s?«
»Haben sie dir das erzählt? Haben die Ärzte das gesagt?«
»Die Kinder wissen es. Alle Kinder reden darüber, aber niemand weiß es genau! Und fast hätten sie es bei mir gemacht — Sie müssen mir sagen, warum! Sie haben kein Recht, es geheimzuhalten, jetzt nicht mehr!«
»Ach, Lyra… Lyra, Lyra. Liebling, Staub und all diese Dinge sind viel zu kompliziert, als daß sich Kinder darum kümmern sollten. Aber glaube mir, was die Ärzte tun, dient nur dem Wohl der Kinder. Staub ist etwas sehr Schlechtes, ein heimtükkisches Übel. Erwachsene und ihre Dæmonen sind bereits so stark damit infiziert, daß für sie jede Hilfe zu spät kommt… Kinder können durch eine kleine Operation davor bewahrt werden. Dann haftet der Staub nicht mehr an ihnen, sie sind immun und glücklich und…«
Lyra dachte an den kleinen Tony Makarios, und plötzlich beugte sie sich vor und übergab sich. Mrs. Coulter ließ sie los und wich zurück.
»Ist dir übel, Liebes? Geh ins Badezimmer…«
Lyra schluckte heftig und wischte sich die Tränen weg.
»Sie brauchen das nicht zu tun«, sagte sie. »Lassen Sie uns doch einfach in Ruhe. Ich wette, Lord Asriel würde das niemals zulassen. Wenn er mit Staub infiziert ist und Sie und der Rektor von Jordan und alle anderen Erwachsenen, kann Staub doch gar nicht schlimm sein. Wenn ich hier rauskomme, sage ich das allen Kindern auf der Welt. Und außerdem, wenn es so gut ist, wieso haben Sie diese Männer dann daran gehindert, es bei mir zu machen? Wenn es gut ist, hätten Sie es zulassen sollen. Sie hätten sich darüber freuen müssen.«
Mrs. Coulter schüttelte den Kopf und lächelte traurig und wissend.
»Liebling«, sagte sie, »es ist nun einmal so, daß manches von dem, was gut für uns ist, uns gleichzeitig ein bißchen weh tut, und natürlich macht es andere unglücklich, wenn du unglücklich bist… Aber das heißt doch nicht, daß dir dein Dæmon weggenommen wird. Er bleibt bei dir! Meine Güte, bei vielen Erwachsenen hier wurde die Operation durchgeführt. Und die Schwestern wirken doch eigentlich ganz glücklich, oder?«
Lyra starrte sie an, und plötzlich begriff sie, warum die Schwestern so seltsam leere und gleichgültige Gesichter hatten und ihre Dæmonen zu schlafwandeln schienen.
Bloß nichts sagen, dachte sie und preßte die Lippen zusammen.
»Liebling,
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