Der Goldene Kompass
kein Mensch würde auch nur im Traum daran denken, an einem Kind eine Operation vorzunehmen, die nicht vorher getestet wurde. Und in tausend Jahren würde niemand einem Kind den Dæmon ganz wegnehmen! Es wird lediglich ein kleiner Schnitt gemacht, und alles hat seine Ruhe, und zwar für immer! Weißt du, solange du jung bist, ist ein Dæmon ein wunderbarer Freund und Kamerad. Aber in dem Alter, das man Pubertät nennt, und in das du auch bald kommst, bringen einen die Dæmonen auf alle möglichen dummen Gedanken und Gefühle, und dadurch kann Staub in den Körper eindringen. Eine schnelle kleine Operation, und schon ist man alle Probleme für immer los. Und dein Dæmon bleibt ja bei dir, nur… nicht mehr mit dir verbunden. Er ist dann wie ein… wie ein kleines Schäfchen, wenn du willst. Das liebste Schäfchen der Welt! Wäre das nicht toll?«
Diese gemeine Lügnerin! Wie schamlos sie log! Selbst wenn Lyra nicht gewußt hätte, daß es Lügen waren, und wenn sie weder Tony Makarios noch die eingesperrten Dæmonen gesehen hätte, hätte sie sie aus tiefstem Herzen verabscheut. Ihre Seele, ihr allerliebster Freund sollte abgeschnitten und zu einem flauschigen Kuscheltier degradiert werden? Lyra glühte geradezu vor Haß, und Pantalaimon verwandelte sich in ihren Armen in einen fauchenden Iltis, seine häßlichste und bösartigste Gestalt überhaupt.
Aber sie sagten beide nichts. Lyra hielt Pantalaimon fest und duldete, daß Mrs. Coulter ihr übers Haar strich.
»Trink deinen Kamillentee aus«, sagte Mrs. Coulter sanft. »Wir lassen hier noch ein Bett für dich aufstellen. Meine kleine Assistentin braucht doch nicht in einem Schlafsaal mit vielen anderen Mädchen zu schlafen, jetzt, wo ich sie endlich wiederhabe. Meine liebste Assistentin! Die beste Assistentin der Welt. Weißt du, daß wir ganz London nach dir abgesucht haben, Liebes? Und wir haben die Polizei alle Städte nach dir durchsuchen lassen. Wie sehr ich dich vermißt habe! Ich kann dir gar nicht sagen, wie glücklich ich bin, daß ich dich wiedergefunden habe…«
Der goldene Affe strich die ganze Zeit unruhig umher; hatte er gerade noch mit nervös zuckendem Schwanz auf dem Tisch gehockt, klammerte er sich schon im nächsten Moment an Mrs. Coulter und zwitscherte ihr leise etwas ins Ohr, um kurz darauf mit erhobenem Schwanz über den Fußboden zu marschieren. Deutlicher hätte er Mrs. Coulters Ungeduld kaum verraten können, und schließlich konnte sie sich nicht länger beherrschen.
»Lyra, Liebes«, sagte sie, »der Rektor von Jordan hat dir vor deiner Abreise doch etwas gegeben, oder? Ein Alethiometer. Das Problem ist nur, daß er das gar nicht hätte tun dürfen, denn es gehörte ihm nicht, sondern war ihm nur zur Aufbewahrung anvertraut worden. Weißt du, es ist wirklich viel zu wertvoll, um durch die Gegend getragen zu werden, denn es gibt nur zwei oder drei davon auf der Welt! Ich nehme an, der Rektor hat es dir in der Hoffnung gegeben, es würde Lord Asriel in die Hände fallen. Hat er dir nicht auch gesagt, du solltest mir nichts davon erzählen?«
Lyra verzog den Mund.
»Aha, es stimmt also. Aber mach dir nichts draus, Liebes, du hast es mir ja nicht gesagt, oder? Also hast du dein Wort auch nicht gebrochen. Aber hör zu, Liebes, auf so etwas muß man wirklich gut aufpassen. Es ist leider so selten und empfindlich, daß wir ab jetzt unbedingt besser darauf achtgeben müssen.«
»Warum soll Lord Asriel es nicht bekommen?« fragte Lyra, ohne sich zu bewegen.
»Wegen seiner Pläne. Du weißt doch, daß er verbannt wurde, weil er etwas Gefährliches und Böses vorhat. Um sein Vorhaben zu vollenden, braucht er das Alethiometer, aber glaub mir, Liebes, er darf es unter gar keinen Umständen bekommen. Der Rektor von Jordan hat sich leider geirrt. Aber jetzt, wo du alles weißt, wäre es nicht besser, wenn du es mir geben würdest? Es würde dir die Sorge ersparen, es immer mit dir herumtragen und darauf aufpassen zu müssen — es ist dir sicher sowieso ein Rätsel, wozu so ein dummes altes Ding gut sein soll…«
Lyra fragte sich, wie sie diese Frau jemals faszinierend und klug hatte finden können.
»Wenn du es also hast, Liebes, gib es besser zur Aufbewahrung mir. Es steckt doch in dem Gürtel um deinen Bauch, ja? Wie schlau von dir, es dort zu verstecken…«
Lyra spürte ihre Hände an ihrem Rock, und dann öffnete sie das steife Ölzeug. Lyra spannte alle Muskeln an. Der goldene Affe kauerte am Fuß des Bettes, hatte die kleinen,
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