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Der Goldene Kompass

Der Goldene Kompass

Titel: Der Goldene Kompass Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Philip Pullman
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hier vor?« fragte eine helle, melodische Stimme —  ihre Stimme. Alle erstarrten.
    »Was machen Sie denn da? Und was ist das für ein Kind…« 
    Sie sprach das Wort Kind nicht zu Ende, denn in diesem   Moment erkannte sie Lyra. Durch einen Tränenschleier sah  Lyra, wie sie zu einer Bank wankte und sich daran festklammerte. Das so schöne und beherrschte Gesicht wirkte auf einmal grau und eingefallen und von namenlosem Grauen  gezeichnet.
    »Lyra«, flüsterte sie.
    Wie der Blitz schoß der goldene Affe von ihrer Schulter und  zerrte Pantalaimon aus dem Drahtkäfig, während Lyra sich aus  eigener Kraft befreite. Pantalaimon strampelte sich sofort aus  den fürsorglichen Affenpfoten und taumelte in Lyras Arme. 
    »Nie, nie«, hauchte sie in sein Fell, und er preßte sein klopfendes Herz an ihre Brust.
    Wie Schiffbrüchige, die an einer einsamen Küste gestrandet  waren, klammerten sie sich zitternd aneinander. Lyra hörte  Mrs. Coulter mit den Männern sprechen, aber so undeutlich,  daß sie nicht wußte, ob sie ärgerlich war oder nicht. Dann verließen sie den schrecklichen Raum. Auf dem Flur mußte Mrs.  Coulter Lyra halb tragen, und schließlich kamen sie zu einer  Tür und betraten ein Schlafzimmer. Das Licht war gedämpft,  Parfüm hing in der Luft.
    Sanft legte Mrs. Coulter Lyra auf das Bett. Lyra hielt Pantalaimon so fest umklammert, daß ihr Arm zitterte. Zärtlich  strich eine Hand ihr über den Kopf.
    »Mein liebes Kind«, sagte die melodische Stimme. »Wie  kommst du denn hierher?«

Die Hexen
     
     
    Lyra stöhnte und zitterte so unbeherrscht, als sei sie gerade halb erfroren aus eisigem Wasser gezogen worden. Pantalaimon war in ihre Kleider gekrochen, lag ganz ruhig an ihre Haut geschmiegt und brachte Lyra mit seiner Liebe langsam wieder zu sich, ohne dabei jedoch Mrs. Coulter aus den Augen zu lassen, die damit beschäftigt war, ein Getränk zuzubereiten, und erst recht beobachtete er den goldenen Affen, dessen ledrige kleine Finger in einem Moment, in dem nur Pantalaimon sie sah, über Lyras Körper gehuscht waren und an ihrer Taille nach dem Beutel aus Ölzeug und seinem Inhalt getastet hatten.
    »Setz dich, Liebes, und trink das hier.« Sanft schlang Mrs. Coulter ihren Arm um Lyras Rücken, um sie aufzurichten.
    Lyra zuckte zusammen, entspannte sich jedoch sofort wieder, als Pantalaimon ihr in Gedanken zu verstehen gab: Denk dran, wir müssen uns verstellen, sonst kriegen die alles raus. Sie schlug die Augen auf, stellte fest, daß sie voller Tränen waren, und begann zu ihrer eigenen Überraschung und Beschämung, heftig zu schluchzen.
    Sogleich redete Mrs. Coulter ihr tröstend zu. Sie drückte dem Affen das Getränk in die Hände und tupfte Lyras Augen mit einem parfürmierten Taschentuch trocken.
    »Weine nur, soviel du willst, Schatz«, sagte die sanfte Stimme, und Lyra beschloß, so schnell wie möglich damit aufzuhören. Sie versuchte krampfhaft, die Tränen zurückzuhalten, preßte die Lippen zusammen und würgte die Schluchzer hinunter, von denen sie noch immer geschüttelt wurde.
    Pantalaimon verwandelte sich in eine Maus, kroch aus Lyras Ärmel und schnupperte ängstlich an dem Getränk, das der Affe in den Pfoten hielt. Aber es war nur harmloser Kamillentee, nichts weiter. Er krabbelte auf Lyras Schulter und flüsterte: »Du kannst es trinken.«
    Lyra setzte sich auf, nahm die heiße Tasse in beide Hände und blies und schlürfte abwechselnd. Dabei hielt sie den Blick gesenkt. Sie mußte sich jetzt verstellen, wie sie es noch nie in ihrem Leben getan hatte.
    »Lyra, Liebes«, murmelte Mrs. Coulter und strich ihr übers Haar. »Ich dachte schon, wir hätten dich für immer verloren! Was ist bloß passiert? Hast du dich verlaufen? Hat dich jemand aus der Wohnung entführt?«
    »Ja«, flüsterte Lyra.
    »Wer war das, Liebes?«
    »Ein Mann und eine Frau.«
    »Waren es Gäste auf der Party?«
    »Ich glaube, ja. Der Mann sagte, Sie brauchten etwas von
    unten, und als ich es holen wollte, packten sie mich und brachten mich mit einem Auto weg. Aber als sie anhielten, bin ich schnell rausgesprungen und weggerannt, und sie haben mich nicht mehr erwischt. Aber ich wußte überhaupt nicht, wo ich war…«
    Wieder wurde Lyra von einem kurzen Weinkrampf geschüttelt, wenn auch nicht mehr so heftig wie am Anfang, und sie tat so, als habe ihre Geschichte ihn ausgelöst.
    »Und als ich dann überlegte, wie ich wieder zu Ihnen zurückfinden konnte, haben mich die Gobbler gefangen…

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