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Der Goldene Kompass

Der Goldene Kompass

Titel: Der Goldene Kompass Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Philip Pullman
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sicher gewesen.  Ich hätte ihr eine Reise in den Norden gern erspart. Vor allem  wünschte ich mir, ich könnte ihr erklären…«
    »Sie würde dir nicht zuhören«, sagte der Bibliothekar. »Ich  kenne sie nur zu gut. Wenn du ihr etwas Ernsthaftes erklären  willst, hört sie dir fünf Minuten lang halbherzig zu und fängt  dann an zu zappeln. Und wenn du sie beim nächsten Mal  danach fragst, hat sie es schon wieder vollkommen vergessen.« »Und wenn ich mit ihr über Staub rede? Glaubst du nicht, sie  würde dann zuhören?«
    Der Bibliothekar gab durch ein Schnalzen der Zunge zu verstehen, für wie unwahrscheinlich er das hielt.
    »Warum um alles in der Welt sollte sie?« sagte er. »Warum  sollte ein abstraktes theologisches Problem ein gesundes,  gedankenloses Kind interessieren?«
    »Wegen ihres künftigen Schicksals. Dabei spielt auch ein großer Betrug eine Rolle…«
    »Wer wird sie betrügen?«
    »Niemand, das ist ja das Traurige: Sie selbst wird die Betrügerin sein, für sie eine schreckliche Erfahrung. Davon darf sie  natürlich nichts wissen, aber es gibt keinen Grund, warum sie  vom Problem des Staubes nichts wissen sollte. Und vielleicht  hast du unrecht, Charles; vielleicht interessiert sie sich ja doch  dafür, wenn man es ihr auf einfache Weise erklärt. Es könnte ihr  später weiterhelfen. Und ich würde nicht soviel Angst um sie  haben.«
    »Das ist die Aufgabe der Alten«, sagte der Bibliothekar, »um  die Jungen Angst zu haben. Und die Aufgabe der Jungen ist es,  über die Angst der Alten zu lachen.«
    Sie saßen noch eine kurze Weile da, dann gingen sie auseinander, denn es war spät, und sie waren alt und ängstlich.

Lyras Jordan
     
     
    Jordan College war das imposanteste und reichste College in Oxford. Wahrscheinlich war es auch das größte, obwohl das keiner so genau wußte. Die Gebäude umschlossen drei unregelmäßige Innenhöfe und vereinten in sich sämtliche Stilrichtungen vom frühen Mittelalter bis zur Mitte des 18. Jahrhunderts. Eine einheitliche Planung hatte es nie gebeben. Das College war nach und nach gewachsen, überall stießen Vergangenheit und Gegenwart aneinander, und dadurch entstand der Eindruck einer bizarren und schon etwas verblichenen Pracht. Irgendwo war immer eine Mauer kurz vor dem Einsturz, und seit fünf Generationen arbeitete dieselbe Familie von Steinmetzen und Gerüstbauern, die Parslows, ausschließlich für das College. Der gegenwärtige Mr. Parslow gab sein Wissen an seinen Sohn weiter, und zusammen mit ihren drei Arbeitern kletterten sie unermüdlich wie Termiten über die Gerüste, die sie an der Ecke der Bibliothek oder über dem Dach der Kapelle errichtet hatten, und hievten hellbraune neue Steinquader, glänzende Bleirollen oder Holzbalken hinauf.
    Dem College gehörten Höfe und Ländereien in ganz Brytannien. Es hieß, man könne von Oxford nach Bristol in der einen und nach London in der anderen Richtung gehen, ohne das Gebiet des College zu verlassen. Überall im Königreich zählten Färbereien und Ziegeleien, Wälder und Atomkraftwerke Pacht an das College, und einmal im Quartal rechneten der Finanzverwalter und seine Buchhalter alles zusammen, gaben die Summe dem Konzil bekannt und bestellten zwei Schwäne für das Festessen. Ein Teil des Geldes wurde wieder investiert — das Konzil hatte soeben den Kaufeines Geschäftsgebäudes in Manchester genehmigt —, vom Rest bezahlte man die bescheidenen Gehälter der Wissenschaftler und die Löhne des Personals, darunter die Parslows und das runde Dutzend anderer Handwerker- und Händlerfamilien im Dienste des College, den Wein für den reich gefüllten Weinkeller, die Bücher und Anbarographen für die riesige Bibliothek, die eine ganze Seite des Melrose Quadrangle einnahm und sich höhlenartig über mehrere unterirdische Stockwerke erstreckte, und nicht zuletzt neue philosophische Instrumente für die Kapelle.
    Die Kapelle auf dem neuesten Stand zu halten war wichtig, weil Jordan College als Zentrum der Experimentaltheologie in Europa wie in Neufrankreich unumstritten an der Spitze stand. Das wußte auch Lyra. Sie war stolz auf die Bedeutung ihres College und gab damit gern bei ihren Kameraden an, wenn sie mit ihnen am Kanal oder in den Lehmgruben spielte. Für prominente externe Wissenschaftler und Professoren von auswärts hatte sie nur Verachtung übrig, weil sie nicht zu Jordan College gehörten und deshalb zwangsläufig weniger wußten, die Armen, als der letzte

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