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Der Goldene Kompass

Der Goldene Kompass

Titel: Der Goldene Kompass Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Philip Pullman
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Hilfswissenschaftler von Jordan.
    Was Experimentaltheologie war, wußte Lyra genausowenig wie ihre Spielkameraden. Sie hatte zwar eine vage Vorstellung, daß es sich dabei um Zauberei handelte, um die Bahnen von Sternen und Planeten und um kleine Materieteilchen, aber das waren nur Vermutungen. Wahrscheinlich hatten Sterne Dæmonen wie die Menschen, und die Experimentaltheologen sprachen mit ihnen. Lyra stellte sich vor, wie der Kaplan mit seiner gesetzten Stimme etwas sagte, den Antworten der Sterndæmonen lauschte und dann wissend nickte oder bedauernd den Kopf schüttelte. Was er allerdings mit den Sternen besprechen sollte, wußte sie nicht.
    Es interessierte sie auch nicht besonders. Lyra bevorzugte handfestere Dinge. Am liebsten kletterte sie mit ihrem besten Freund Roger, dem Küchenjungen, über die Collegedächer und spuckte Pflaumenkerne auf die Köpfe vorbeikommender Wissenschaftler oder schrie vor dem Fenster eines Seminarraumes wie eine Eule; bei anderen Gelegenheiten machten die Kinder Wettrennen durch die engen Gassen, stahlen auf dem Markt Äpfel oder führten Krieg. So wie Lyra nichts von den unter der Oberfläche des Collegealltags verborgenen politischen Strömungen ahnte, wußten die Wissenschaftler ihrerseits nichts von dem wunderbar aufregenden Durcheinander von Bündnissen, Feindschaften, Fehden und Verträgen, das das Leben der Kinder von Oxford bestimmte. Wie schön war es doch, Kindern beim Spielen zuzusehen; was könnte unschuldiger und rührender sein?
    Dabei bekämpften Lyra und die anderen Kinder einander in wechselnden Gruppierungen bis aufs Messer. So bekriegten die Kinder von Jordan College (darunter junge Diener, die Kinder von Dienern und Lyra) die Kinder eines anderen College. Dieser Krieg war allerdings vergessen, wenn die Kinder aus der Stadt ein Kind aus dem College angriffen: Dann rückten alle Collegekinder gemeinsam gegen die Stadtkinder vor. Diese Rivalität war viele hundert Jahre alt und rief verwurzelt und besonders befriedigend.
    Aber selbst sie war vergessen, wenn andere Feinde drohten. Ein solcher Dauerfeind waren die Kinder der Ziegelbrenner, die bei den Lehmgruben lebten und von College- und Stadtkindern gleichermaßen verachtet wurden. Im vergangenen Jahr hatten Lyra und einige Kinder aus der Stadt vorübergehend Waffenstillstand geschlossen und die Lehmgruben überfallen. Sie hatten die Ziegelbrennerkinder mit schweren Lehmklumpen bombardiert, ihre feuchte Lehmburg zerstört und die Kinder dann in der klebrigen Masse gewälzt, von der ihre Väter lebten, bis Sieger und Besiegte gleichermaßen einer Schar kreischender Golems glichen.
    Der andere Dauerfeind kam und ging mit den Jahreszeiten. Die gyptischen Familien, die in Flußbooten lebten und zu den Märkten im Frühjahr und Herbst in der Stadt auftauchten, waren immer für einen Kampf gut. Besonders gegen eine Familie, deren Boot an einem Liegeplatz im Stadtteil Jericho festmachte, führte Lyra eine Fehde, seit sie Steine werfen konnte. Als die Familie das letzte Mal in Oxford gewesen war, hatten Lyra, Roger und einige andere Küchenjungen aus Jordan und St. Michael sich in den Hinterhalt gelegt und das bunt bemalte Flußboot mit Matsch beworfen, bis die ganze Familie an Land sprang, um die Kinder zu verjagen — in diesem Augenblick hatte Lyra an der Spitze eines Reservekommandos das Boot geentert und es vom Ufer abgestoßen. Sie waren den Kanal entlanggetrieben, hatten den gesamten Bootsverkehr blockiert und das Boot von vorn bis hinten nach seinem Stöpsel durchsucht. Lyra glaubte fest an diesen Stöpsel. Wenn man ihn herauszog, so versicherte sie ihrer Truppe, würde das Boot sofort sinken. Doch sie fanden ihn nicht und mußten das Boot verlassen, als die Gypter sie einholten. Tropfnaß und mit Triumphgeheul waren sie durch die engen Gassen von Jericho geflohen.
    In dieser Welt war Lyra zu Hause. Sie war vor allem ein freches kleines Mädchen, das sich holte, was es brauchte. Daneben sagte ihr freilich ein vages Gefühl, daß ihre Welt nicht auf dieses Treiben beschränkt war, daß ein Teil von ihr auch der erhabenen, von Traditionen geprägten Welt von Jordan College angehörte und daß es irgendwo in ihrem Leben auch eine Verbindung zur Welt der hohen Politik gab, die Lord Asriel repräsentierte. Doch bewirkte dieses Gefühl nur, daß sie sich aufspielte und die anderen Kinder herumkommandierte. Es war ihr nie eingefallen, dem Gefühl nachzugehen.
    So hat sie ihre Kindheit wie eine halbwilde Katze

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