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Der Goldene Kompass

Der Goldene Kompass

Titel: Der Goldene Kompass Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Philip Pullman
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Rektor sagte, Lyra würde ihm sowieso nicht zuhören. Sie hätte jetzt jedem, der ihr etwas über Staub sagen konnte, begierig zugehört. In den kommenden Monaten sollte sie einiges darüber erfahren und zuletzt mehr darüber wissen als irgend jemand sonst auf der Welt. Doch noch war es nicht soweit.
    Außerdem waren ihre Gedanken noch mit etwas anderem beschäftigt. Seit einigen Wochen kursierte ein Gerücht auf den Straßen; einige Leute lachten, wenn sie es hörten, andere verstummten, so wie manche Menschen über Gespenster spotten und andere sich vor ihnen fürchten. Niemand kannte den Grund, doch seit einiger Zeit verschwanden Kinder.
     
     
    Das passierte etwa auf folgende Weise.
    Folgt man dem Fluß Isis, einer belebten Wasserstraße mit träge dahingleitenden, mit Ziegeln und Asphalt beladenen Kähnen und Getreidetankern, nach Osten, vorbei an Henley und Maidenhead bis nach Teddington, wohin die Gezeiten des Deutschen Ozeans reichen, und weiter nach Mortlake, vorbei am Haus des großen Magiers Dr. Dee und an Falkeshall mit seinen weitläufigen Lustgärten, in denen tags die Brunnen glitzern und die Fahnen leuchten und nachts Lampions in den Bäumen hängen und Feuerwerk aufsteigt, an White Hall, wo allwöchentlich der Staatsrat des Königs tagt, und am Schrotturm, von dem in endlosem Rinnsal geschmolzenes Blei in Bottiche mit trübem Wasser spritzt, und noch weiter bis dahin, wo der Strom, inzwischen breit und schmutzig, in einem weiten Bogen nach Süden schwingt — so gelangt man nach Limehouse, und hier lebt das Kind, das verschwinden wird.
    Der Junge heißt Tony Makarios. Seine Mutter glaubt, daß er neun Jahre alt ist, aber sie hat ein schlechtes, vom Alkohol zerfressenes Gedächtnis; er könnte genausogut acht oder auch zehn sein. Er hat einen griechischen Nachnamen, aber auch das ist, wie sein Alter, nur eine Vermutung der Mutter, denn er sieht mehr aus wie ein Chinese als ein Grieche und hat mütterlicherseits auch Iren, Skrälinge und Laskaren als Vorfahren. Tony ist nicht besonders intelligent, aber eine Art unbeholfener Zärtlichkeit treibt ihn manchmal dazu, die Mutter grob zu umarmen und ihr einen klebrigen Kuß auf die Wange zu drücken. Die arme Frau ist meist zu betrunken, um von sich aus auf einen solchen Gedanken zu kommen, aber wenn sie merkt, was passiert, erwidert sie die Umarmung liebevoll.
    In diesem Augenblick treibt sich Tony auf dem Markt in der Pie Street herum. Er hat Hunger. Es ist früh am Abend, und zu Hause bekommt er nichts zu essen. Zwar hat er einen Schilling in der Tasche, den ein Soldat ihm für einen Botengang zu seinem Mädchen gegeben hat, aber den will Tony nicht für Essen verschwenden, das man sich doch meist auch ohne Geld beschaffen kann. Er wandert also über den Markt, zwischen den Ständen der Altkleiderhändler und Wahrsager, der Obstverkäufer und Fischhändler hindurch, seinen kleinen Dæmon, einen Spatzen, auf der Schulter, und blickt nach rechts und links. Wenn eine Marktfrau und ihr Dæmon wegsehen, ertönt ein helles Zwitschern, und Tonys Hand schnellt vor und verschwindet wieder unter seinem weiten Hemd, zunächst mit einem Apfel oder ein paar Nüssen, dann mit einer warmen Pastete.
    Die Händlerin sieht das und ruft, und ihr Katzendæmon macht einen Satz, aber schon flattert Tonys Spatz in der Luft, und Tony selbst ist schon fast bis zum Ende der Straße gerannt. Flüche und Geschrei folgen ihm, allerdings nicht weit. An der Treppe zum St.-Catherine-Bethaus setzt er sich und holt die dampfende, zerdrückte Beute, von der Bratensoße auf sein Hemd tropft, heraus.
    Er wird beobachtet. Eine Dame in einem langen Mantel aus rotbraunem Fuchspelz, eine schöne junge Dame mit dunkel glänzendem Haar unter einer pelzbesetzten Kapuze, steht am Eingang des Bethauses, ein halbes Dutzend Stufen über ihm. Vielleicht ist gerade ein Gottesdienst aus, denn aus der Tür hinter ihr dringt Licht, drinnen spielt eine Orgel, und die Dame hält ein edelsteinbesetztes Brevier in der Hand.
    Tony merkt davon nichts. Das Gesicht rief über die Pastete gesenkt, die Zehen einwärts gedreht und die nackten Sohlen aneinandergedrückt, sitzt er kauend und schluckend da, während sein Dæmon zu einer Maus wird und sich die Barthaare reinigt.
    Neben dem Fuchsmantel der jungen Dame erscheint ihr Dæmon in Gestalt eines Affen, allerdings keines gewöhnlichen Affen: Er hat ein langes und seidiges Fell, das tiefgolden schimmert. Geschmeidig und ganz langsam gleitet er die Treppe hinab

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